nd-aktuell.de / 16.06.2017 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 20

Heugabeln gegen Schuldenlast

Tausende indische Bauern leiden unter dem Zwang, Kredite aufnehmen zu müssen

Thomas Berger

Uttar Pradesh, Punjab, Haryana, Rajasthan, Madhya Pradesh, Maharashtra. Die Protestaktionen in Indien sind keine Einzelfälle, sondern ziehen sich durch den gesamten mittleren Norden und Westen des Landes. In Madhya Pradesh hat es dabei auch schon fünf Todesfälle gegeben. Die Botschaft ist im Grunde überall die gleiche: Die Landwirte wollen von ihrer überbordenden Schuldenlast befreit werden. Zehntausende Kleinbauern haben über die vergangenen Jahre hinweg aus Verzweiflung ihrem Leben ein Ende gesetzt, gerade wenn Ernteausfälle wie durch Dürren die Lage noch einmal verschärften. Allerdings erben bei einem solchen Suizid lediglich die Witwen und Kinder die Verpflichtung, bei den Banken und oftmals auch privaten Geldverleihern aufgenommene Kredite zurückzuzahlen.

Jüngst konnten die Bauern nach einwöchigen Massenaktionen erfolgreich ihre Proteste beenden - die Regionalregierung in Mumbai hat zugesichert, für 13,4 Millionen Bauern die Schulden zu erlassen. Zuvor hatte einen solchen Schritt bereits die erst seit Kurzem amtierende neue Administration in Lucknow beschlossen. Die Maßnahme im bevölkerungsreichsten Unionsstaat Uttar Pradesh (UP), wo wie auf nationaler Ebene nun mit übergroßer Mehrheit die hindu-nationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) von Premier Narendra Modi regiert, kostet 355 Milliarden Rupien, also rund fünf Milliarden Euro. Diese Größenordnung ist selbst für die großen Unionsstaaten ein riesiger Brocken, in UP macht die Summe 80 Prozent der bisherigen Staatsverschuldung aus. Doch eine stille Hoffnung der Regionalregierungen scheint sich nicht zu erfüllen - die Zentrale in Delhi zeigt sich bislang nicht bereit, sich mit Beihilfen zu beteiligen. Eine Unterstützung der nationalen Regierung sei nicht zu erwarten, wurde Finanzminister Arun Jaitley, ein enger Vertrauter Modis, in den Medien zitiert.

Ob dies das letzte Wort bleibt, muss sich nun zeigen. Denn auch in den anderen betroffenen Unionsstaaten könnte es schon demnächst zu ähnlichen Entscheidungen kommen: Im Punjab, wo in Kürze Beratungen über den neuen Etat anstehen, wurde eine Kommission eingesetzt, die mit den Vertretern der Bauernverbände zu einer Einigung kommen soll. Doch besonders massiv wären die Folgen, sollte die Regionalregierung für die Kreditschulden der Bauern einstehen wollen. Dort würde die Summe nämlich gleich das Doppelte der bisherigen Staatsverschuldung betragen - nämlich 675 Milliarden Rupien, rund 9,5 Milliarden Euro. In Madhya Pradesh, wo die Kleinbauern mit bis zu zwei Hektar Grundbesitz das Einlenken der Politik in den kommenden Tagen erwarten, wären es umgerechnet fünf Milliarden Euro.

Die derzeit in den meisten Unionsstaaten regierende BJP bringt zusätzlich in Bedrängnis, dass auch die Bharatiya Kisan Sangh, der eigene parteinahe Bauernverband, Teil der Protestfront ist, sich nicht von den Verbänden, die den Linksparteien oder der altehrwürdigen Kongresspartei (INC) nahestehen, separieren lässt. Und gerade mit Blick auf die nationalen Wahlen 2019 steckt auch schon Wahlkampfmunition in dem Thema. Zuletzt hatte 2009 der damals noch in einem Mitte-links-Bündnis regierende INC den Bauern 720 Milliarden Rupien, also gut 10 Milliarden Euro, an Schulden erlassen.

Dass eine solche Entscheidung nur temporäre Erleichterung für die geplagten Familien bringt, zeigt schon die Tatsache, dass das Schuldenproblem regelmäßig immer wieder hochkocht. Denn selbst ein staatliches Einstehen für die Altschulden bringt den Bauern kein neues Geld. Schon für die nächste Aussaat müssen viele deshalb abermals Kredite aufnehmen. Zudem steigen die Produktionskosten beständig, gerade weil auf den Äckern immer mehr Dünger und Pestizide eingesetzt werden und die Preise für Agrarchemie beständig wachsen.

Dürren, vermehrt durch den auch in Indien spürbaren Klimawandel, sorgen öfter für massive Ernteausfälle, auch die Verkaufserlöse für die einzelnen Kulturen schwanken stark. Gerade Ende vergangenen Jahres musste viele Bauern, um überhaupt noch ihre Ernte loszukriegen, preislich empfindliche Zugeständnisse machen - ihre Kunden waren durch die Währungsreform über etliche Wochen nur sehr eingeschränkt zahlungsfähig. Doch nicht nur in dieser Hinsicht hat Premier Modis überraschender Schritt, Anfang November 2016 sozusagen über Nacht mit der Entwertung der beiden größten Banknoten 86 Prozent des im Umlauf befindlichen Bargeldes ungültig zu machen, die Landwirte überdurchschnittlich belastet. Da sich die Ausgabe der neuen Scheine vor allem im ländlichen Raum massiv verzögerte, fehlte vielen Bauern auch das Geld, um rechtzeitig neues Saatgut kaufen zu können.