nd-aktuell.de / 17.06.2017 / Kommentare / Seite 21

Schwächer ohne Gegenkräfte

Befinden wir uns in einer Fundamentalkrise des Kapitalismus? Zur Aktualität von Karl Marx und seiner Kritik

Joachim Bischoff, Fritz Fiehler, Stephan Krüger und Christoph Lieber

Entscheidend ist bis heute der Hinweis von Marx auf die zentrale Rolle der Wertbestimmung durch die Arbeitszeit. Denn diese Verbindung von theoretischer Analyse mit der bis heute anhaltenden gesellschaftlichen Auseinandersetzung um ein »Normalarbeitsverhältnis« liefert einen wichtigen Hinweis auf die periodisch wiederkehrende Aktualität der marxschen Kapitalismuskritik: »Sobald (die Wertbestimmung) aber exakt mit dem Arbeitstag und seinen Variationen in Verbindung gebracht, geht ihnen ein ganz unangenehmer neuer Leuchter auf.«

Dieser Hinweis auf den grundlegenden Konflikt um die Regulierung der Lohnarbeit im Kapitalismus in Verbindung mit der politökonomischen Deutung ist wohl der wichtigste Punkt für die Erklärung der fortwährenden Aktualität der marxschen Theorie.

Marx rückt in der Analyse des Kapitalismus die Auseinandersetzung um den Arbeitstag und die Verteilung des gesellschaftlichen Surplus in den Mittelpunkt der Betrachtung. Marx und viele in seiner Tradition sich verstehenden Kämpfer um eine gerechte Verteilung der wirtschaftlichen Leistung trägt die Vorstellung: »In der Tat, keine Gesellschaftsform kann verhindern, daß one way or another die disponible Arbeitszeit der Gesellschaft die Produktion regelt. Aber, solange sich diese Reglung nicht durch direkte bewußte Kontrolle der Gesellschaft über ihre Arbeitszeit - was nur möglich bei Gemeineigentum - vollzieht, sondern durch die Bewegung der Preise der Waren«, bleibt es bei grundlegenden sozialen Konflikten und einem Ringen um die Zukunftsgestaltung.

Die Marx’sche Theorie konnte also wegen des grundlegenden Verteilungskonfliktes einen Einfluss behalten und diese Interpretation erregt immer wieder aufs Neue die Gemüter. Hat sie uns für die heutigen Probleme auch noch etwas zu sagen?

Nach der letzten großen Krise: Säkulare Stagnation

Die Weltwirtschaft hat sich von der großen Finanz- und Wirtschaftskrise des 21. Jahrhunderts nach fast zehn Jahren noch nicht erholt. Die Ökonomen reden von einer säkularen Stagnation: Gemeint ist damit eine deutliche Abschwächung der wirtschaftlichen Leistung und der Produktivität.

Mehr noch: Die nächste technologische Revolution lässt eine neue Welle der Arbeitslosigkeit erwarten; Millionen von Menschen, die in vielen Bereichen des globalen Marktes keine Chance zum Verkauf ihrer Arbeitskraft haben, machen sich auf die Wanderschaft.

Im »Kapital« analysiert Marx die fundamentalen Strukturen des sich entwickelnden Kapitalismus - nicht in einem beschränkten fachökonomischen Sinn, sondern als gesellschaftliche Verhältnisse, als Grundlage der Dynamik von Klassenverhältnissen und (sozialen wie auch politischen) Klassenauseinandersetzungen.

Er erfasst mit den Bestimmungen der Mehrwertproduktion das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen kapitalistischen Gesellschaftsformation. Der gesellschaftliche Surplus unterliegt vielen marktbasierten und staatlichen Umverteilungen. Der gesamte Arbeits- oder Konsumtionsfonds der Lohnarbeiter besteht also aus dem netto verbleibenden Geldlohn sowie den aus der sozialstaatlichen Umverteilung erhaltenen Transfers der Sozialversicherungen und Gebietskörperschaften.

Damit ist auch der Wert der Arbeitskraft erst im Resultat komplizierter Umverteilungsprozesse bestimmt. Das historisch-moralische Element im Wert der Arbeitskraft, welches auf die jeweiligen gesellschaftlich »notwendige(n) Bedürfnisse« und »die Art ihrer Befriedigung« abhebt, ist ein »historisches Produkt und hängt daher großenteils von der Kulturstufe eines Landes, unter andrem auch wesentlich davon ab, unter welchem Bedingungen, und daher mit welchen Gewohnheiten und Lebensansprüchen die Klasse der freien Arbeiter sich gebildet hat«. Dabei beinhaltet diese Bestimmung der »not-wendigen Bedürfnisse« nicht nur die historisch vergangenen Bedingungen des Konstitutionsprozesses der Arbeiterklasse, sondern ebenso sehr die kontemporären Verhältnisse, in denen der Verlauf der Kapitalakkumulation und das gesellschaftliche Kräfteverhältnis zwischen den Klassen dieses historisch-moralische Element des Werts der Arbeitskraft in mittleren Zeiträumen jeweils neu ausbalanciert.

»In dem Maße, in dem die große Industrie sich entwickelt, ist die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit, als . . . vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie, oder der Anwendung dieser Wissenschaft auf die Produktion.« Die Verwissenschaftlichung der Produktion und die Entwicklung des »gesellschaftlichen Individuums« - sprich einer Gesellschaft von gut ausgebildeten und gebildeten Menschen - sie »erscheinen dem Kapital nur als Mittel, und sind für es nur Mittel, um von seiner bornierten Grundlage aus zu produzieren«. Und dann folgt der kühne Satz: »In fact aber sind sie die materiellen Bedingungen, um sie in die Luft zu sprengen.«

Von der Krise des Fordismus zur Industrie 4.0

Die Krise des Fordismus ist im Grunde die Krise des Fließbandsystems, das der US-Industrielle Henry Ford als einer der ersten in großem Maßstab angewendet hat. Fordismus bedeutete im Wesentlichen: Automatisierung, starke Steigerung der Produktivität einhergehend mit deutlichen Lohnsteigerungen, die wiederum den massenhaften Konsum neuer Produkte wie Kühlschränke, Autos und Fernsehern ermöglichten.

Seit den frühen 1970er Jahren ist dieses System in der Krise, die immer wieder unterbrochen wird durch Zwischenhochs wie nach dem Untergang des Sozialismus oder während Spekulationsblasen. Lösen könnte diese Krise nur ein neuer Wachstumsschub, etwa durch eine neue Technologie. Doch die gibt es noch nicht. Wenn Wirtschaft und Politik den ökologischen Umbau dieser Welt als ein hochprofitables Geschäft begreifen würden, sähe das schon ganz anders aus.

Vielleicht kommt der große Akkumulationsschub ja noch. Fakt ist aber doch: Eine tragende Rolle wie die Elektro-, Stahl- oder Chemieindustrie, die vor 100 Jahren einen neuen Schub auslösten, spielt die IT-Branche bisher nicht. Für unser tägliches Leben ist die Informationstechnologie unheimlich wichtig, aber nicht als Träger einer neuen Welle der Kapitalakkumulation.

Die angesichts der Robotik erneut aufgeworfene Frage, unter welchen Bedingungen technische Innovationen nicht nur Arbeit überflüssig machen, sondern auch neue Arbeitsplätze entstehen lassen, wird im »Maschinenkapitel« von Marx ebenfalls wohl durchdacht und anschaulich abgehandelt.

Bei der Ausarbeitung der Kritik der politischen Ökonomie stößt Marx auf die Beobachtung, dass gleichzeitig mit dem Fortschritt der Akkumulation eine fortschreitende Veränderung in der Zusammensetzung des Kapitals stattfindet. Der Teil des Gesamtkapitals, der aus konstantem Kapital - Maschinerie, Rohstoffe sowie Produktionsmitteln in allen erdenklichen Formen - besteht, nimmt stärker zu, verglichen mit dem anderen Teil des Kapitals, der in Arbeitslohn oder im Ankauf von Arbeitskräften ausgelegt wird. Diese von Marx später als »Gesetz des steigenden Wachstums des konstanten Kapitals im Verhältnis zum variablen« formulierte Beobachtung ist mehr oder weniger präzise auch von der klassischen politischen Ökonomie formuliert worden. Im Fortschritt der Industrie hält die Nachfrage nach lebendiger Arbeit nicht Schritt mit der Akkumulation des Kapitals. Sie wird zwar noch wachsen, aber in ständig abnehmender Proportion, verglichen mit der Vergrößerung des Kapitals.

In den letzten Jahrzehnten erlahmen in den Ländern des entwickelten Kapitalismus seine Wachstumskräfte; spekulative Blasen und daraus folgende Krisen waren die Folge. Auch zehn Jahre nach der großen Wirtschafts- und Finanzkrise von 2007 sind die Folgen trotz verschiedener Regulierungsmaßnahmen immer noch präsent.

Der charakteristische Zusammenhang im modernen Kapitalismus von hoher Produktivitätsentwicklung, sozialstaatlicher Modifikation der Verteilungsverhältnisse und Entwicklung pluralistischer Lebensverhältnisse löst sich infolge eines Bündels von gesellschaftlichen Widersprüchen auf.

Durch diesen Umbruch veränderten sich Arbeitsorganisation, die Struktur des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters, aber auch die Akkumulationsstrukturen und die politisch bestimmten Regulationsformen. Die Stärke der nationalen Organisationen der Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung sorgte dafür, dass vor allem die entwickelten kapitalistischen Länder in West- und Nordeuropa - im Unterschied zu den USA und Japan - zu einem starken Stabilitätsfaktor des fordistischen Akkumulationsregimes durch gewerkschaftliche Verteilungspolitik, soziale Sicherungssysteme und keynesianische Nachfragepolitik geprägt wurden. Dabei bildeten sich unterschiedliche transnationale Entwicklungspfade heraus, die wiederum durch unterschiedliche Rollenzuweisungen (Machtverhältnisse) oder einen asymmetrischen Klassenkompromiss geprägt waren.

Chronische Überakkumulation seit Mitte der 1970er Jahre

Seit Mitte der 1970er Jahre treten deutliche Phänomene einer chronischen Überakkumulation in Erscheinung. Das enorm gewachsene Gewicht der Eigentums- und Vermögensbestände bricht sich über die Bewegung des Geldkapitals Bahn. Der Übergang zu weitgehend unregulierten Geld- und Kreditmärkten setzte eine beschleunigte Akkumulation des Finanzkapitals in Gang.

Kern der Restrukturierung der Kapitalakkumulation ist die über die Liberalisierung des Kapitalverkehrs Ende der 1970er Jahre herausgebildete neue Qualität der Finanzmärkte. Die unzureichende Akkumulationsdynamik schlägt sich in der Globalökonomie in einer Ausweitung von »gescheiterten Staaten« und der Auflösung von regionalen Ordnungen (wie dem Brexit) nieder.

Man fragt sich: Befinden wir uns in einer Fundamentalkrise des Kapitalismus? Ist dessen Ende gekommen? Auch der Kapitalismus ist eine historische Formation. Was einen Anfang hat, hat auch ein Ende.

»Der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, hat immer großen Nutzen aus der Präsenz von Gegenkräften gegen eine Alleinherrschaft des Profits und des Marktes gezogen. Sozialismus und Gewerkschaftsbewegung haben, indem sie der Kommodifizierung Grenzen setzten, den Kapitalismus davor bewahrt, seine nichtkapitalistischen Grundlagen zu zerstören«, so hat es der Soziologe Wolfgang Streeck formuliert. »So gesehen könnte der Sieg des Kapitalismus über seine Widersacher sich als Pyrrhussieg erweisen, weil er ihn von ebenjenen Gegenkräften befreite, die ihm zwar gelegentlich unbequem, tatsächlich aber seiner Fortexistenz stets dienlich gewesen waren.«

Mögliche Erfolge von Transformationsprozessen sowohl im Kapitalismus als auch über ihn hinaus setzen vor allem voraus, dass die Subjekte bzw. Akteure vorhanden sind, um die notwendigen Veränderungen gegen den erbitterten Widerstand der ökonomisch und politisch Herrschenden in langwierigen, schwierigen Kämpfen durchzusetzen. Hierfür ist es auch wichtig, dass realistische, glaubhafte und überzeugende Vorstellungen vorhanden bzw. herausgebildet werden, dass die Verwirklichung der vorgeschlagenen Alternativen mit den Interessen der Menschen an einem besseren Leben heute und in Zukunft übereinstimmen.

Marx’ Grundthese lautet: Wenn nur die Arbeit Wert produziert, aber der Anteil der Arbeit immer weiter zurückgeht gegenüber der Macht der Maschinen, dann wächst das Problem der Verfügung über den gesellschaftlichen Reichtum. Dieses Problembewusstsein hat gerade in der Gegenwart neue Aktualität gewonnen.