Die Kinder von Kathmandu

Benjamin Lebert erzählt von einer Welt jenseits unserer Wahrnehmung

  • Britta Steinwachs
  • Lesedauer: 4 Min.

Es sind düstere Zeiten für Achanda, Tarun, Shakti und all die anderen jungen Bewohner des »Recovery Homes« in Kathmandu. Vorerst sind sie zwar dem Missbrauch und der Zwangsarbeit im Kinderheim entflohen. Jeder von ihnen träumt jedoch von einem anderen, von einem strahlenderem Leben.

Benjamin Lebert, dessen Debüt »Crazy« im Jahr 1999 für Wirbel sorgte, erzählt in seinem neuen Roman aus drei Perspektiven die Geschichten dieser Kinder in der Metropole am Fuße des Himalayas. Lebert nimmt uns mit in eine Welt zwischen herrschaftlichen Villen, in deren Kellern sich Kinder als Arbeitssklaven verdingen und den notdürftigen Blechverschlägen am Stadtrand, wo einzig das Klebstoffschnüffeln dabei hilft, den Hunger für eine Weile zu vergessen. Die letzten Tage vor dem tragischen Erdbeben in Nepal rennen und straucheln ein zehnjähriger Junge und seine älteren Heimgenossen durch die erbarmungslose Großstadt, um ihr Glück zu finden.

Der Jüngste im Bunde ist Tarun, der dem Heim immer wieder entläuft, um seine Freundin dazu zu bewegen, sich aus der Gefangenschaft einer reichen Dame zu befreien. Der 14-jährige Achanda hingegen lässt sich auf zwielichtige Geschäfte ein und beklaut den »Brother«, der das Heim leitet, um sich Geld für ein gebrauchtes Motorrad und damit für ein freies Leben mit seiner geliebten Shakti zusammenzusparen. Shakti wiederum begegnet Achandas großen Versprechungen mit Skepsis und himmelt lieber ihren hellhäutigen Betreuer aus dem fernen Europa an.

Wenn sie und andere Kinder über die europäische Herkunft der freiwilligen Helfer sinnieren, kann man den mahnenden Zeigefinger des Autors, welcher selbst als Ehrenamtlicher in einem solchen Heim tätig war, förmlich über der Buchseite schweben sehen: »Der Brother kommt von dort, wo fast alle Brothers und Sisters herkommen, die das Recovery Home besuchen, um für uns da zu sein … eine Zeitlang. Ein paar Tage. Wochen. Aus der Mitte des riesigen und mächtigen Landes kommt er, das Europa heißt. Zu dem Śarana gute Beziehungen geknüpft hat. Und von dem er immer Hilfe erbittet. Ich weiß, das Zuhause vom Brother liegt weiter entfernt als meins. Aber ich weiß auch, dass er viel schneller zu Hause ist als ich, wenn er will. (...) Er braucht nicht schlecht zu träumen. Sein Zuhause ist nah.«

Zwar lassen sich diese Gedankengänge als (selbst)kritische Reflexion der widersprüchlichen »Hilfsmentalität« der westlichen Welt zwischen individueller Wohltätigkeit und global verfestigter Ungleichheit verstehen. Sie wirken aber oft deplatziert und den Figuren in ihrem kindlichen Erleben geradezu aufgedrückt. Es ist sicherlich eine große schriftstellerische Herausforderung, im perspektivischen Wechsel in die Haut dieser drei umtriebigen Heranwachsenden zu schlüpfen. So eindringlich und schmerzhaft die Sprache das innere Erleben dieser drei ganz unterschiedlichen Helden plastisch schildert, schaffen es die Figuren jedoch nie, sich ganz von ihrem Erschaffer freizuschwimmen.

Lebert lässt den zehnjährigen Tarun poetische Sätze denken wie: »Die Welt müsste leer sein. Das denke ich oft. Leer wie eine Wüste. Dann würde die Traurigkeit über die Welt streifen wie ein lebloser Wind und käme nirgends herein.« Als er sich heimlich aus dem Heim schleicht, sinniert Tarun: »Meistens sind die Schleier aus Sand meine ganze Welt. Eine Grenze, die ich nicht überwinden darf. Aber jetzt gibt es keine Grenze mehr. Die Welt ist da. Sie ist Farbe, Klang.«

Obwohl der Autor hinter seinen Figuren immer spürbar bleibt, entfaltet er über seine quirligen und widerborstigen Protagonisten charmant eine Geschichte wie ein Strauß kleiner Rebellionen in einer großen, dunklen, ungerechten Welt. Wo die Sprache teilweise überzeichnet und belehrend wirkt, lässt sich aus der Geschichte über das Schicksal dieser drei Underdogs mit all den Verwerfungen und einem lebenspraktischen Opportunismus dennoch viel lernen.

Die große Stärke dieses Romans besteht darin, die moralischen Zwickmühlen der privaten Wohltätigkeiten im Kapitalismus zu adressieren, wie etwa, wenn der vermeintlich gottgleiche Heimleiter ein Mädchen für eine hohe Summe verkauft, um davon andere Rettungen zu finanzieren. Auf diese Weise entspinnt sich aus den drei Blickwinkeln eine spannend konstruierte Story, die die Tore in eine verborgene Lebenswelt der meist Ungehörten öffnet - zumindest einen Spalt breit.

Benjamin Lebert: Die Dunkelheit zwischen den Sternen. Roman. S. Fischer, 304 S., geb., 20 €.

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