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Vertrauen und Kontrolle

Über das Dilemma, sich auf computerbasierte Tests zu verlassen

  • Lesedauer: 4 Min.

Neulich sprach ich mit einer Pilotin der Lufthansa. Sie wollte nach einer Babypause, die nicht einmal zwei Jahre gedauert hatte, ihren kleinen Jungen an eine Tagesmutter gewöhnen und wieder fliegen - »wenn ich die Prüfung schaffe«, setzte sie hinzu. So erfuhr ich, dass die Frauen und Männer, die in ihren schmucken Uniformen einem vielfach beneideten Beruf nachgehen, jedes Jahr mit mehr oder weniger zuversichtlichen Gefühlen in einem Flugsimulator auf ihre Tauglichkeit geprüft werden. Ob Schiffskapitäne ähnliche Hürden überwinden müssen? Bei Francesco Schettino, der durch ein tölpelhaftes Manöver ein Kreuzfahrschiff versenkte und für den Tod von 32 Passagieren verantwortlich ist, kann man sich solche Genauigkeit kaum vorstellen.

Die Möglichkeit, professionelle Leistungsfähigkeit in einer Simulation zu prüfen, wirkt faszinierend. Sollen wir uns wünschen, sie möglichst auszuweiten? Der Realität nachgebaute Kunstwelten, in denen Normalität und Krise geprobt werden können, schaffen eine viel realistischere Prüfung als die üblichen Untersuchungen, in denen beispielsweise der Fahrlehrer neben dem Fahrschüler sitzt oder der Chirurg neben einem erfahrenen Kollegen am Operationstisch steht.

Ärzte entscheiden ebenfalls über Leben und Tod. Sie müssen sich so oft in komplexen Risiken orientieren, dass auch hier genauere Daten zur professionellen Leistungsfähigkeit erarbeitet werden. Simulationen sind im Gespräch; es gibt Ansätze bei verschiedenen Eingriffen, aber als Routineüberprüfung der professionellen Fertigkeit werden sie noch nicht verwendet.

Jüngst hat eine groß angelegte Studie von Yusuke Tsugawa und seinen Mitarbeitern an der Harvard-Universität die Daten von 730 000 älteren Patienten ausgewertet, die mit akuten Beschwerden ins Krankenhaus aufgenommen wurden. Als Maßstab für die behandelnden Ärzte galt, wie viele Patienten in den 30 Tagen nach der Einweisung starben oder erneut aufgenommen werden mussten. Es ergab sich ein kleiner, aber bedeutungsvoller Zusammenhang zwischen Sterblichkeit und dem Alter der Ärzte: Je jünger der behandelnde Doktor, desto seltener die Todesfälle - bei unter 40-Jährigen 10,8, bei über 60-Jährigen 12,1 Prozent.

Unsere Möglichkeiten, durch Kontrolle Gefahren zu meiden, sind sehr begrenzt. Ein Beispiel ist die vorgeschriebene TÜV-Untersuchung von Motorfahrzeugen. Keine Statistik belegt, dass ein TÜV-geprüfter und perfekt ausgerüsteter Sportwagen mit einem risikofreudigen Fahrer »sicherer« unterwegs ist als der vielfältig geflickte, schwach motorisierte Oldtimer, den der technische Wächter wegen Löchern in der Karosserie und abgefahrenen Reifen aus dem Verkehr zieht. Wir prüfen eben, was wir prüfen können, auch wenn wir genau wissen, dass die meisten Gefahren woanders angesiedelt sind.

In der Medizin gibt es ein ähnliches Dilemma, wie 2016 eine Untersuchung im Journal of Clinical Oncology zeigte. Wenn ein Chirurg weniger als 15 Mal eine tumoröse Speiseröhre entfernt hat, liegt die Sterblichkeit seiner Patienten bei 7,9 Prozent. Hat er es bereits mehr als 15 Mal getan, reduziert sich dieser Wert auf 3,1 Prozent. Mit weiterer Erfahrung jedoch wird die Quote der unmittelbaren Sterblichkeit nach der Operation kaum mehr besser; allerdings haben Chirurgen die besten Langzeiterfolge, die schon über 35 Mal einen Speiseröhrenkrebs operiert haben, vermutlich, weil sie besser wissen, wo sie nach befallenen Lymphknoten suchen müssen.

Um seine Erfahrungen zu sammeln, muss der junge Chirurg eine Reihe von Fehlern machen dürfen. Und um Patienten die Sicherheit durch einen erfahrenen Chirurgen zu verschaffen, muss der ältere Chirurg auch dann noch operieren dürfen, wenn er durch Selbstüberschätzung beginnende Schwächen seiner Technik nicht erkennt. Prüfungen im OP-Simulator wären hilfreich, um das einzuschätzen, aber sie werden das Problem nicht restlos lösen können.

Seit es Computer gibt, beschäftigt ein extremer Kontrollverlust durch Über-Kontrolle die Fantasie der Romanautoren und Filmemacher. Die elektronischen Akteure einer militärischen Simulation übernehmen die Macht. Sie entdecken in dem Mythos der Terminator-Serie, dass nicht die feindlichen Computer des Gegners das Problem sind, sondern die zweibeinigen, wässrigen Kohlenstoffeinheiten, die an ihren Schaltkreisen herumprogrammieren und keine Ruhe geben.

Fazit: Kontrolle ist gut, Verzicht auf sie ebenfalls; Vereinfachungen in beiden Richtungen (wie »Kontrolle ist besser« oder »Vertrauen ist besser«) belegen nur, dass da jemand ein Dilemma nicht verstanden hat.

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