nd-aktuell.de / 04.07.2017 / Kultur / Seite 16

Die analoge Frage

Die Rettung des Filmerbes erfordert einen Bewusstseinswandel, verstärktes Engagement und - deutlich mehr Geld

Dirk Alt

Verluste sind zu erwarten.« So lautet die nüchterne Prognose im Off-Kommentar von Michael Palms Essay-Film »Cinema Futures« (Österreich 2016), der die Frage nach der Zukunft unseres filmischen Gedächtnisses stellt. 1895 gilt als das Geburtsjahr des Kinos; das filmische Gedächtnis umfasst somit 122 Jahre und ungezählte Spiel- und Dokumentarfilme, Lehrfilme, Trickfilme, Werbefilme, Amateurfilme, Wochenschauen etc., deren Gesamtheit das Filmerbe ausmacht. Dieses Filmerbe schwebt heute, im zweiten Jahrzehnt der Digitalisierung, zwischen Skylla und Charybdis. Skylla ist der Schwund der bewährten Analog-Technologie, die zwar das Überleben von Bildinhalten über Jahrhunderte sicherstellen kann, durch das Absterben von Rohfilmfabrikation und Kopieranstalten jedoch vom Verschwinden bedroht ist. Charybdis ist das Digitale: verführerisch in seiner Allgegenwart, aber zugleich flüchtig und aufgrund seiner dynamischen Wandlungen kein geeignetes Archivmedium.

Diese Sichtweise hat auch die Linkspartei in ihrem im Juni 2016 veröffentlichten Antrag zur »Nachhaltigen Bewahrung, Sicherung und Zugänglichkeit des deutschen Filmerbes« eingenommen. Sie bezog darin eine Gegenposition zur Linie der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien (BKM), Monika Grütters. Die Staatsministerin setzt auf eine einseitige Digitalisierungsprogrammatik, die mit jährlichen Mitteln von 10 Millionen Euro über einen Zeitraum von zehn Jahren umgesetzt werden soll. Die LINKE fordert demgegenüber die Verdreifachung der Mittel - 30 Millionen Euro jährlich über den gleichen Zeitraum - und deren Verwendung keineswegs nur zum Zweck der digitalen Speicherung, sondern auch zum Erhalt der Originale und der analogen Infrastruktur. Insbesondere für die Rettung des von der Schließung bedrohten bundeseigenen Kopierwerks am Bundesarchiv-Standort Berlin-Hoppegarten hat sich der medienpolitische Sprecher der Linksfraktion, Harald Petzold, starkgemacht. Nur: Wozu braucht es im digitalen Zeitalter überhaupt ein Kopierwerk?

»Das Stoffliche, das Wahrnehmbare mit allen Sinnen« gehöre nicht nur zum Menschen, erläutert Petzold, sondern auch zum Film. Daher habe er den politischen Willen, das Medium Film als Kulturtechnik zu bewahren. So müssten auch Vorführmöglichkeiten für 35-Millimeter-Film erhalten bleiben, um dessen »ästhetische Schönheit« erfahrbar zu machen, die mittels Digitalisierung nur unzulänglich reproduziert werden könne. Wenn Petzold von einem »Digitalisierungswahn« spricht, der um sich greife und von ökonomischen Interessen getrieben werde, verweist er auch auf die mit dem Digitalen zusammenhängenden Überlieferungsrisiken, derer sich Politik und Öffentlichkeit in Deutschland viel zu wenig bewusst seien. »Jede konstruktive Kraft hat auch eine destruktive Seite«, meint Petzold mit Blick auf Hacker-Gefahren und Schadsoftware. Zudem: Wer mache sich Gedanken darüber, was aus den vielen Tausend Handyfotos werde, die wir auf unseren Mobiltelefonen sammelten?

Tatsächlich bedürfen digitale Daten einer gewissenhaften Pflege. Der sogenannten Obsoleszenz, also der Überalterung von Codes und Hardware, muss durch regelmäßige Migration der Daten von einem Träger auf einen anderen und durch Umwandlung in aktuelle Dateiformate (Transkodierung) begegnet werden. Unterbleibt diese Pflege, etwa weil die hierfür nötigen finanziellen Mittel versiegen, droht innerhalb kurzer Frist der Verlust der Daten. Vor diesem Hintergrund verglich der Leiter des schwedischen Nationalarchivs, Jonas Palm, Digitalisierungsprojekte mit »schwarzen Löchern«. Und bereits 2011 warnte die Studie der EU-Kommission »Digital Agenda For The European Film Heritage« vor den unkalkulierbaren Langzeitkosten, die anfallen, um die digitalen Daten benutzbar zu halten.

Seit sich Petzold im August 2016 als erster Oppositionspolitiker vor Ort ein Bild von der Funktionstüchtigkeit des Kopierwerks in Hoppegarten gemacht hat, scheint ganz allmählich eine Sensibilisierung hinsichtlich der analogen Frage einzusetzen - begünstigt sicher auch durch die Absichtserklärung des österreichischen Bundeskanzleramtes, Österreichs Filmerbe nicht digital, sondern analog zu sichern. Zu diesem Zweck soll auf Grundlage von Apparaten und Personal der letzten österreichischen Kopieranstalt ein »Film Preservation Center« entstehen. In ähnlicher Weise hatte bereits Schweden 2011 das letzte noch im Land bestehende Kopierwerk für Archivzwecke erworben.

Auch für Deutschland gilt, dass der Erhalt des Bestehenden wesentlich kostengünstiger und praktikabler wäre als die Alternative, nach erfolgtem Kahlschlag nötigenfalls neue Strukturen zu schaffen. Darum kommt dem Kopierwerk, das im Bundesarchiv als wirtschaftlich nicht länger tragbar gilt, besondere Bedeutung zu. Für dessen Rettung tritt im Deutschen Bundestag neben Petzold bislang jedoch nur die medienpolitische Sprecherin der Grünen, Tabea Rößner, ein.

Um den Bewusstseinswandel voranzutreiben, wäre Petzold zufolge ein stärkeres Engagement der Filmschaffenden erforderlich, die sich, möglicherweise in Form eines Aufrufes, für das Filmerbe im Allgemeinen und den Analogfilm im Speziellen einsetzen sollten. Hier blieb es bislang jedoch bei Einzelstimmen wie der von Juliane Lorenz, der Geschäftsführerin der Rainer Werner Fassbinder Foundation, die als Cutterin mit Fassbinder an zehn Filmen arbeitete und die im Kulturausschuss des Bundestages für die analoge Filmarchivierung warb.

Für diesen Zweck will die Linksfraktion die im Antrag genannten 30 Millionen Euro jährlich als Drittelfinanzierung durch Bund, Länder und Filmwirtschaft aufbringen lassen. Neben einer Filmerbe-Abgabe von fünf Cent pro verkaufter Kinokarte regt Petzold an, aus dem Erlös der mit öffentlichen Mitteln geförderten Produktionen einen Fonds »Filmsicherung« zu speisen. Das gleiche Modell könne auch auf die vom Bund finanzierten oder bezuschussten Digitalisierungen von Klassikern der deutschen Filmgeschichte Anwendung finden. Petzold macht deutlich, dass seine Fraktion eine langfristige, gesamtstaatliche Filmerbe-Strategie anstrebt, die den Erfahrungen der großen Kinonationen des Auslandes, aber auch der Materialität und Historizität des Mediums stärker gerecht werde als die Linie der BKM.

Eines ist sicher: Es sind sowohl vonseiten der politischen Akteure als auch von den Institutionen und Archiven, der Filmwissenschaft und der Filmindustrie verstärkte Anstrengungen erforderlich, um die jetzt schon zu erwartenden Verluste des Filmerbes möglichst gering zu halten.

Dirk Alt ist Historiker, Publizist und Dokumentarfilmgestalter. Er engagiert sich u.a. mit der Website filmdokumente-retten.org[1] für den Erhalt des deutschen Filmerbes.

Links:

  1. http://filmdokumente-retten.org