nd-aktuell.de / 05.07.2017 / Kultur / Seite 14

Im Käfig der Illusionsindustrie

In einer neuen Spielstätte des Volkstheaters Rostock wurde das Tanzstück »Rock ’n’ Rostock« uraufgeführt

Stefan Amzoll

Teuflische Situation: Ein Mann erliegt der Verführung. Die Reize greifen tief. Er, jung, ungelenk, Mikro an der Wange, singt so schön, wenn auch laienhaft. Von der Empore oben säuselt der Schmelz seines Liedes zum Publikum herunter, er eingebunden in Stricke: Die bewunderte Welt bestrickt ihn und, Teufel noch mal, er verstrickt sich in sie. Tatsächlich. Der Jüngling, hellgraues Tuch am Leib, glotzt romantisch, bewundert den Glimmer der Show, die vor ihm statthat, die Grazie und Geschwindigkeit der Tänzerinnen und Tänzer. Die rotieren, mal aufrecht, mal gebückt, werfen sich hoch, runter, liegen lang, wälzen sich am Boden. Momentweise geben sie ihre unregelmäßigen Metren, als säßen ihnen Stechfliegen im Nacken. Ihre Hemden weiß, ihre Hosen anfangs lackschwarz.

Im Weiteren entfaltet sich von Nummer zu Nummer eine Kostümvielfalt mit hohem Umkleidetempo (Robert Schrag). Der Junge ist gutgläubig und adaptiert versonnen, was die Bühne mobilisiert. Parallel laufen die Schauer der Musik über seinen Rücken. Dunkle elektronische Bässe schmeicheln sich ein in die schaurige Süße des Beginns. Der Song im groben Viervierteltakt nervt nicht, er steckt an. Aus Beschallungssystemen rauschen Soundtracks häppchenweise auf. Tönt da nicht die Mundharmonika aus »Spiel mir das Lied vom Tod«? An den Lippen des Jünglings kehrt sie wieder, mal in traurigen, mal hellen, aggressiven, bis zur Unkenntlichkeit zugerichteten Figuren.

Die Halle 207 ist eine neue Spielstätte des Rostocker Volkstheaters. Sie liegt am Ufer der Hafeneinfahrt zur alten Neptunwerft. Ein hergerichtetes altes Backsteingebäude, früher Lagerhalle, steht sie nun Theatervorführungen und sonstigen Geselligkeiten offen. Etwa 800 Leute finden Platz. Im Saal, nur halb gefüllt: viele Ältere, zu wenig Junge. Die Sitzreihen, dreigeteilt, steigen leicht an. Auf den hintersten Plätzen sieht man fast nichts mehr von dem, was die Bühne an Details formuliert.

»Rock ’n’ Rostock« kam als Uraufführung in der Regie und Choreografie von Katja Taranu in Zusammenarbeit mit der hauseigenen Tanzcompagnie. Die Bühne gestaltete Olaf Grambow. Die Tanzgruppe hat darauf überreichlich Entfaltungsspielraum. An Bauten ragt die Empore hoch mit dem durchsichtigen Quadrat, das die Soloauftritte einfasst. Desgleichen fällt das Gewirr von Vorhängen hinten ins Auge. Gewirr, weil wiederkehrende Licht- und Videoeinblendungen (Christian Beckmann, Larissa Potapow) dem Stoff und der Seide die eigentümlichsten Muster einprägen. Die Rocknummern und extraordinären Songs, von Jan Paul Werde arrangiert, sind durchweg gecovert, also geklaut, und für die Bühne funktionalisiert. Dramaturgisch wirkt die Musik wie eine Mischung aus schnell/langsam, laut/leise, brutal/zärtlich. Diverse Songstile verbinden sich mit zumeist synchron dazu ablaufenden tänzerischen Arrangements. Auch Elemente von Swing, Slow-Fox, Alltagsmusik fallen ein, vermischt mit eigens produzierten elektronischen Sounds und Geräuschen. Neue Musik bleibt ausgespart.

Ein Rockspektakel, gewiss eins der besseren Sorte. Denn die erzählte Geschichte ist mehr als die Oberfläche des Üblichen. Sie basiert auf einer Legende, der zufolge man nur ein Star wird, wenn man sich dem Teufel verschreibt. Ismail heißt der Mann, der so gern singt. Er will die Stufen zum Erfolg emporsteigen, auf Gedeih und Verderb. Die Hürde ist der Leibhaftige. Dem muss er zu Diensten sein und ihm seine Seele hergeben, bevor er in den rockigen Himmel kommt. Am Ende fällt er die Stufenleiter herunter und ist mit seinem geliebten Mädchen wieder Mensch.

Altes Lied, Aufstieg und Fall, hier neu aufgezäumt. Und nicht schlecht. Ganz bei der Sache jeder einzelne des Tänzerteams. Fremd schien den klassisch Ausgebildeten der Gegenstand nicht zu sein. Die Choreografie setzt sich aus klassischem Figurenwerk, Elementen der besseren Revue und Optionen des modernen Ausdruckstanzes zusammen. Die Sache ist: Ein Geschäft der Show mit ihren Helden gerät ins Zwielicht. Das ganze Geflimmer und Gejohle, die kreischenden Fans und der exzentrische Wahnsinn stehen in Frage.

Die achtzigminütige Aufführung ist angefüllt mit Einlagen und Attraktionen. Es geht auch ohne Musik zu, bei jenem Reigen der Paare etwa, denen Ausfallschritte genügen, um körperlich zu sprechen. Überraschend auch die klanglich orientalisch gefärbte Mund-an-Mund-Nummer des Paares, das sich küsst, als sei es siamesisch zusammengewachsen. Sodann die Situation, wo der kreatürliche Atem den Rhythmus prägt. Drastisch die Momente, in denen es rockiger wird, wilder, und der Jüngling sich in die Show-Truppe allmählich integriert. Tritt das Mädchen vor ihn hin, so geschieht das in antiken Gesten und Atem-Atem-Duetten, die zu einem Trio auswachsen. Denn die Liebe der beiden ist gefährdet. Sendbote des Konkurrenten scheint der Teufel: ein Mann in greller Weiberkleidung, High-Heels mit superdicken Sohlen. Der spielt den Mephisto aus Goethes »Faust II« noch hässlicher, gemeiner, als es der Dichter vorzugeben vermochte, mit so abgefeimten wie wütenden Körperhaltungen, rauchig-rockiger Stimme und jähem diabolischen Lachen.

Alsdann der Tanz derer mit Silbertrikotagen am Leib. Er liefert dem Verführten den Zylinder im Zuschnitt der Wahlkampfbosse zur Zeit der Weltwirtschaftskrise, während im Hintergrund der Teufel triumphiert. Ismail ist nun endlich emporgehoben wie die Stars der Revue, in Wirklichkeit gefangen im Käfig der Illusionsindustrie. Rockexzesse feiern das und führen zu gräulichen Situationen. Pyramiden aus Spiegelglas mit Köpfen oben drauf geistern über die Bühne, halbnackte Tänzer spiegeln sich in wandernden Duschkabinen. Massen schreien und klatschen. Sirenenklänge flimmern mit dem Licht. Dann der Tanz der silbrigen Roboter. Ein Tanzartist klaut Ismail den Zylinder. Zwei Lemuren ziehen ihm die Jacke aus. Fortgesetzt regen sich Zweifel und Widerstand. Der Teufel gerät ein letztes Mal in Ekstase. Dann würgt es ihm in der Kehle, und er verschwindet.

Beglückend das Finale. Ismail und das Mädchen in schlichtem proletarischen Hellgrau finden sich wieder, und die Gruppe beschirmt sie.

Nächste Vorstellungen: 6., 8., 12. Juli