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Vereint auf wilden Wogen

Christian Stückl gibt im Passionstheater Oberammergau Richard Wagners »Fliegendem Holländer« ein Happy End

  • Ingolf Bossenz
  • Lesedauer: 7 Min.

Das Meer ist das Meer - kein Häusermeer. Es geht um siedende Sehnsucht und lodernde Liebe - nicht um Kapitalkritik in Kadenzen und Agitation in Arien. Der kryptische Kapitän ist ein fluchbeladener Fahrensmann - kein schurkischer Schlepper von verzweifelten Flüchtlingen. Was Christian Stückl in Gestalt des »Fliegenden Holländers« von Richard Wagner (1813-1883) auf die Bühne des Oberammergauer Passionstheaters gebracht hat, bewegt sich - gemessen mit modernistischem Maß - hart an der Grenze zur Häresie.

Doch Stückl, der als langjähriger Intendant des Münchner Volkstheaters Tiefen wie Untiefen des modernen Regietheaters ausgelotet und in meisterlicher Manier passiert oder umfahren hat, bleibt sich in Oberammergau als Oberammergauer treu: Die zwischen den Passionsspielen (alle zehn Jahre, wieder: 2020) veranstalteten Theatersommer taugen weder für Avantgarde-Ambitionen noch für Experimental-Exzesse. Und das ist gut so. Denn was im Hauptort des Ammertals alljährlich auf die Bretter der 42 Meter breiten Passionsbühne gestellt, mit Ton, Text, Musik und Gesang in Bild und Szene gesetzt wird, ist von solch solider Souveränität, wie sie wohl nur angesichts der Gemeinde, Geschichte und Geschehen unerschütterlich umragenden, in ewig stummem Ruf verharrenden Berge wachsen kann.

Diese einzigartige Montan-Union von alpiner Natur, bewährter Tradition und künstlerischer Kreativität ist es, die das seit 1634 dem »Spiel vom Leiden, Sterben und Auferstehen unseres Herrn Jesus Christus« frönende oberbayerische Dorf zum Kult-Urdorf werden ließ, dessen Glanz spätestens seit dem 19. Jahrhundert weltweit und besonders in den angloamerikanischen Raum ausstrahlt. Wenn dieser Nimbus im 21. Jahrhundert auch das gekonnte Gepränge in den sogenannten Zwischenjahren der Passion umgreift, ist das vor allem das Verdienst Christian Stückls, dem 2020 zum vierten Mal die Leitung der Passionsspiele obliegt und der mit seinen in biblischer Bewährung gestählten Jüngern dem Zustand ein Ende bereitete, dass in das großartige Spielhaus »neun Jahre lang die Tauben nei’gschissn« haben, wie er im nd-Interview anmerkte (24./25. Juni).

Nun also Wagner. Nach Thomas Mann, William Shakespeare, Feridun Zaimoglu, Henrik Ibsen und Giuseppe Verdi, dessen »Nabucco« 2015 die erste Opernaufführung war und als Werk machtvoller Massenszenen den (Laien-)Chor des Passionstheaters in höchsten Tönen brillieren und in ebensolchen das Lob von Publikum und Presse ernten ließ. Und an Norwegens Gestade sind die rund 180 Frauen und Männer ebenso in Höchstform, wie sie es an den Ufern des Euphrat waren: »Matrosen« wie »Mädchen« agieren in der Einstudierung von Markus Zwink mit einer Professionalität, die denen der Berufssänger und -musiker nicht nachsteht. Die raumgreifenden Bühnen-Ortswechsel der in gedecktfarbiges Retro gewandeten Sängerinnen und Sänger vor maritimer Kulisse (Bühne und Kostüme: Stefan Hageneier) sind ein Faszinosum choreografisch makelloser Mobilität und Ruhelosigkeit.

Einer Ruhelosigkeit, die vor allem dem hintergründig-spirituellen Katalysator eignet, der das artistische Ablaufszenario überlagert, verstärkt und durchdringt: dem Meer. Ein im Bühnenzentrum die dunkelblaue Rückwand durchbrechender, wellenbemalter, sich drehender Zylinder erweckt gleich bei der Ouvertüre die Illusion einer durch ebendiese Bewegung erzeugten Musik - ganz im Sinne Wagners, als würde das Orchester die Impulse gerade erst durch den unmittelbaren Kontakt mit dem Bühnengeschehen empfangen. Ein magisches Moment - entströmt dem kraftvoll-sensiblen Spiel der Neuen Philharmonie München unter ihrem Dirigenten Ainars Rubikis.

Nicht anders die solistischen Akteure dieser »romantischen Oper«. Mimisches, Gestisches, Statisches und Mobiles der Sängerinnen und Sänger sind mitnichten Staffage von Text und Melodie, sondern Letztere entwachsen gleichsam deren emotionalem Befinden. Als überragend ist hier die Lettin Liene Kinča zu nennen, der es geradezu beängstigend gelingt, die erotisch-entrückte Überspanntheit und emotionale Zerrissenheit der Senta aus tiefer Verinnerlichung heraus im wahrsten Sinne des Wortes zu verkörpern. Senta ist die verkannte Außenseiterin, die in ihrer schwärmerischen Leidenschaft für ein mutmaßliches Phantom von den Gefährtinnen Spott und Tadel erhält - ein Vorgang, der im Chor der Mädchen dank ansehnlicher Spielfreude der Beteiligten zu einer grandiosen Mixtur von Tragik, Tragikomik und Komödiantik gerät. Furios: die Niederländerin Iris van Wijnen als »Gouvernante« Mary, die in Slapstick-Manier die puritanisch-richtende Strenge der Frauentruppe aufbricht.

Doch der »Holländer« ist - anders als beispielsweise in der sensationellen DEFA-Verfilmung von Joachim Herz 1964 - kein Phantom, keine fantastische Projektionsfläche der teilnahmsvollen Träume Sentas, ihrer sinnsuchenden Tauchgänge in die Tiefen von Liebe, Leid und Erlösung. Vereinnahmt der Holländer in der Person von Gábor Bretz die Mitwelt schon durch seine schiere physische Präsenz, so passiert der Ungar mit seiner düster-dräuenden Vokalität geradezu die Grenze zum Metaphysischen. Dem Versprechen des geldgierigen Kapitäns Daland (jovial-gerissen: Guido Jentjens) vertrauend, dessen Tochter Senta zur treuen Ehefrau zu erhalten und so endlich von endloser Irrfahrt erlöst zu werden, geht der Holländer vor Anker mit seinem Schiff, dessen in bedrückend-nachtalbigem Blau liegendes Achterdeck zur Kulisse der eskalierenden Dramatik wird. Dass die ihm Versprochene längst die ihn Erwartende ist, vereinfacht die Angelegenheit nur scheinbar. Denn während dem auf reiche Auslöse bauenden Daland angesichts der unheimlichen Umstände der Brautwerbung zunehmend mulmig wird (herrlich: die »untoten« Holländermatrosen als szenische Anleihe bei »The Walking Dead«), will Sentas Verlobter Erik (verzweifelt-entschlossen: David Danholt) die offenbar heillos Verwirrte vor sich selbst retten. Diese jedoch weiß genau, was sie will. Und sie will, was sie weiß: als Außenseiterin den Außenseiter erlösen, indem sie sich zu ihm bekennt - ohne Wenn und Aber.

Das kann eigentlich, wie fast alles bei Wagner, nur tragisch enden. Zumindest, wenn die Regie den Schlussanweisungen des Meisters folgt: »Sie stürzt sich in das Meer. Sogleich versinkt mit einem fürchterlichen Krachen das Schiff des Holländers; das Meer türmt sich hoch auf und sinkt dann in einem Wirbel zurück. - Der Holländer und Senta, beide in verklärter Gestalt, entsteigen dem Meere; er hält sie umschlungen.«

Doch muss das wirklich sein? Zwar verkünden Sentas letzte Worte folgenschweres Fatum: »Hier steh ich - treu dir bis zum Tod!« Und als der sich verraten und verloren wähnende Holländer bereits die Segel gesetzt und den Anker gelichtet hat, stürzt sie sich im letzten Moment ... nein, nicht von den Klippen, sondern dem Geliebten in die Arme. Die Drehkulisse schließt sich ... Let the good times roll - nicht nur die Wellen.

Müssen wir uns jetzt, Albert Camus modelnd, den »Fliegenden Holländer« als einen glücklichen Menschen vorstellen? Ist er doch den Stein, den er wie Sisyphos wieder und wieder bergauf rollen musste, dank Senta los: Nicht mehr muss er ruhelos die Ozeane kreuzen und alle sieben Jahre an Land gehen, um nach vergeblicher Suche weiblicher Treue wieder in See zu stechen. Doch der griechische Mythenbold fand ja gerade in der Absurdität seines rollenden Steins den Sinn des Lebens. Ist nun, da das Suchen des Holländers ein Ende hat, auch dessen Lebenssinn dahin? Oder geben ihm Senta und ihre Treue einen neuen?

Das Grandiose an Christian Stückls Inszenierung besteht nicht zuletzt darin, dass durch solche (unbeantworteten) Fragen, die sich erst nach dem Verklingen des letzten Akkords stellen, rückblickend Dinge, Handlungen, Vorgänge in Zweifel gezogen werden, die ursprünglich klar erschienen. Die Todessehnsucht des Holländers - nur vorgeschoben? Das Mitleidsmotiv Sentas - nur Camouflage erotischer Leidenschaft? Zwei Unentwegte, die den Weg zueinander gesucht und gefunden haben - nicht den angeblich vorgezeichneten Weg in einen »erlösenden« Tod? War es »die Auflösung im reinen Gefühl als Erlösung« (Martin Heidegger über die Macht der Musik)?

Das imponderable Kalkül der Kontingenz weist auch der Kunst die Grenzen zu respektive öffnet diese erst. »Doch, dass der arme Mann noch Erlösung fände auf Erden, zeigt Gottes Engel an, wie sein Heil ihm einst könne werden!«, singt Senta. Ist der wortlos über die Bühne streifende Knabe (verschmitzt-verträumt: Suleman Hashimi) Gottes Engel? Der Junge mit blauer Latzhose und Schiebermütze bringt des Holländers Bild auf die Bühne und zählt die Chancen der Liebenden an den Blütenblättern einer Gerbera ab. Die von Stückl eingeführte enigmatisch-pantomimische Figur ist ein kleiner, aber besonders feiner Regieeinfall, der das ganz Große als gefangen in der Knechtschaft des oft ganz Kleinen verortet.

Die Rätsel bleiben. Denn: Die Drehkulisse schließt sich hinter den beiden (glücklich?) Vereinten und zeigt wieder die wilden Wogen. Zurück bleiben »Männer und Frauen«, die »in sprachloser Erschütterung dem Vorgange und der Erscheinung« zuschauen. (Auch Wagner bleibt sich treu: Das zuletzt Zitierte entstammt seiner Regieanweisung zur »Götterdämmerung«, die der Genius aus Sachsen erst 35 Jahre nach der Urfassung des »Holländers« fertigstellte.) Ein von bezeugenden Massen geformtes Bild der finalen Apotheose, das schwer zu überbieten ist (was auch für den Beifall der Premiere gilt). Ein Bild der Ergriffenheit? Der Fassungslosigkeit? Beides passt zu einer Zeit, da die Suche nach Glück ungleich unentspannter war als heute und das Durchbrechen von Konventionen ein ebenso großes Abenteuer wie das Befahren der Meere.

Aufführungen: 14./16./21./23. Juli

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