nd-aktuell.de / 11.07.2017 / Kultur / Seite 16

Die Lügen der Erwachsenen

Peter Härtling ist tot

Thomas Maier

Der Junge kommt aus dem syrischen Homs. Als unbegleiteter Flüchtling findet er den Weg nach Deutschland - und hier trotz aller Widrigkeiten eine neue Heimat. Das im vergangenen September veröffentlichte Kinderbuch »Djadi, Flüchtlingsjunge« wird Peter Härtlings letzte Veröffentlichung bleiben. Im Alter von 83 Jahren ist der Schriftsteller am Montag in Rüsselsheim gestorben. Wie seine Romanfigur Djadi war auch Härtling in jungen Jahren Flüchtling und musste in der neuen schwäbischen Umgebung mit dem Trauma eines Krieges zurechtkommen.

Härtling, der eine Vielzahl an Gedichten, Erzählungen und Romanen schrieb, war einer der produktivsten Autoren der Nachkriegszeit. Seine größten Fans hatte er dank Büchern wie »Hirbel« (1975) oder »Ben liebt Anna« (1979) unter den Kindern, deren Leserpost er bis zuletzt liebte. Zentrales Thema vieler seiner Werke ist die Erinnerung. Es bedeutete für ihn die Auseinandersetzung mit der Geschichte und der politischen Vergangenheit, aber auch mit den schweren Schicksalsschlägen, die er als Heranwachsender verarbeiten musste. Der Zweifel an der Ehrlichkeit der Erwachsenen wurde für ihn zum »Grundschock«, wie er einmal sagte. Nach 1945 gaben sich dieselben Menschen plötzlich demokratisch, die vorher noch einen Diktator bejubelt hatten.

Geboren wurde Härtling 1933 in Chemnitz. Mit der Familie nach Mähren übergesiedelt, flüchtete er nach Ende des Zweiten Weltkriegs zusammen mit seiner Mutter vor der Roten Armee. Der Vater, ein Rechtsanwalt, starb 1945 in russischer Gefangenschaft. Über Österreich kam die Familie nach dem Zweiten Weltkrieg ins schwäbische Nürtingen, wo sich die Mutter 1946 das Leben nahm. Härtling blieb mit seiner Schwester bei Verwandten zurück. Neben seinem Deutschlehrer und einem Pfarrer wurde der Maler Fritz Ruoff (1906 - 1986), einst Kommunist, zur Vaterfigur für den Jugendlichen.

Härtling arbeitete zunächst als Journalist in seiner schwäbischen Wahlheimat, bevor er 1967 Cheflektor beim S. Fischer Verlag in Frankfurt (Main) wurde. Seit 1974 war er freier Schriftsteller. Seinen Ruf als Romanbiograf großer Künstler begründete er mit dem 1976 erschienenen Buch »Hölderlin«. Danach schrieb Härtling auch über Schubert, Schumann, Mozart, E.T.A. Hoffmann und zuletzt über Verdi. Von der »geschwätzigen« Politik hatte sich der Autor, der sich lange im Kampf gegen die NATO-Nachrüstung und zugunsten der Ökologiebewegung engagierte, abgewendet.

Härtling, der mit einer Psychologin verheiratet war und vier Kinder hatte, lebte in der Nähe von Frankfurt (Main). Trotz eines Herzinfarkts und Gehirnschlags arbeitete er bis zuletzt rastlos weiter und bewahrte sich sein Kämpferherz. Die anti-islamischen Parolen der Rechtspopulisten erinnerten ihn an die Zeit nach 1945, wie Härtling 2016 der Zeitschrift »chrismon« sagte. »Da bin ich wieder fremd.« dpa/nd