nd-aktuell.de / 17.07.2017 / Politik / Seite 3

Jüdische Tragödie und lettische Schuld

Auf den Spuren des Holocaust mit dem Riga-Komitee

Annette Schneider-Solis, Riga

Allein wäre er nie nach Riga geflogen. In der lettischen Hauptstadt ermordeten Nazis Heinz Samuels Großeltern und seinen Onkel. »Meine Klassenkameraden hatten Großeltern, ich nicht«, erinnert sich der 64-Jährige aus Niedersachsen. Sein Vater hat drei Konzentrationslager überlebt, sprach aber kaum über das Geschehene. Erst viel später begann Heinz Samuel zu recherchieren. Dass er nach Riga flog, verdankt er einer Einladung des Oberbürgermeisters von Hannover. Die Stadt ist Mitglied des Riga-Komitees, einer Vereinigung von 55 deutschen, österreichischen und tschechischen Städten, aus denen 25 000 jüdische Einwohner verschleppt und in Riga ermordet wurden. Das Riga-Komitee im Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge will die Geschichte der Rigaer Juden aufarbeiten, an die ermordeten deutschen Juden erinnern und hat Orte des Gedenkens geschaffen.

Die Moskauer Vorstadt in Riga ist ein Stadtteil, den man sozialen Brennpunkt nennt. Aus Fenstern beobachten Anwohner die Gruppe auf ihrer Spurensuche. Am frühen Morgen des 30. November 1941 marschierten hier SS und Hilfspolizei ein, ließen die Menschen antreten, weiß Matthias Ester vom Geschichtskontor Münster. Es wurde Platz gebraucht für die »Reichsjuden«, die aus Nazideutschland gen Osten deportiert werden sollten. Der Rigaer Blutsonntag, an dem 15 000 lettische Juden aus dem Ghetto Moskauer Vorstadt ermordet wurden, nahm seinen Lauf.

»Margers Vestermanis war damals 16 Jahre alt«, ergänzt der ehemalige Geschichtslehrer Winfried Nachtwei, »Er bekam von der SS den Auftrag, mit einem Kinderschlitten Kinderleichen aufzusammeln und am jüdischen Friedhof abzulegen.« Der Friedhof wurde später in einen Park der Kommunistischen Brigaden umgestaltet, in dem nichts mehr an seine Vergangenheit erinnerte.

Als Winfried Nachtwei zum ersten Mal in Riga war, fand er Familien, die im Park, wo einst Gräber waren, picknickten, Hunde, die quasi auf den letzten Ruhestätten ihre Geschäfte verrichteten - doch keine Gedenkstätte. Dieser Teil der Geschichte wurde verdrängt. Inzwischen ist der jüdische Friedhof wieder erkennbar. Die zerstörte Synagoge ist ebenso Gedenkstätte wie der Wald von Bikernieki, wo Zehntausende ermordet und in Massengräbern verscharrt wurden.

»Ich fing an, mich mit Riga zu beschäftigen«, erzählt Winfried Nachtwei, »weil Münster die Hauptstadt exillettischer Kriegsverbrecher war.« Winfried Nachtwei stieß auf bis dahin in Deutschland wenig bekannte Massendeportationen ins sogenannte Vernichtungsgebiet nach Minsk und Riga. »Riga war das Auschwitz der westfälischen Juden«, formuliert er. »Dort begann auch die Massenvernichtung der deutschen Juden mit der Erschießung von über 1000 Menschen.«

Der Münsteraner traf Zeitzeugen, erfuhr von der verheerenden Situation ehemaliger Ghettohäftlinge. »Angehörige der Waffen SS erhielten aus Deutschland Renten, die Opfer gingen leer aus!«, empörte er sich und engagierte sich fortan für die Opfer. Bürgerinitiativen entstanden, Geld wurde gesammelt, in Riga Gedenkorte eingerichtet - auch dank des Engagements des Riga-Komitees.

In der Moskauer Vorstadt erinnert nur wenig an die blutige Vergangenheit. Es ist ein Stadtteil im Umbruch. Die Straßen tragen lettische Namen. »Damals«, erzählt Matthias Ester, »hießen die Straßen nach den Herkunftsorten der Deportationszüge.« Auf einem Bauzaun ist mit einer Schablone der Schriftzug »Bielefelder Straße« gesprüht. Das Werk urbaner Aktivisten, junger Leute, die die Erinnerung wach halten wollen.

An einer Kreuzung zeigt Matthias Ester auf ein modernes Haus. Hier habe der Blechplatz gelegen. »Der Blechplatz war Hinrichtungsstätte und Selektionsort, der blutigste Platz im Stadtteil. Hier wurde gemordet und gefoltert.«

Dort begann auch die Aktion Dünamünde. »Bei einem Appell«, fand Winfried Nachtwei heraus, »wurde den Häftlingen gesagt, dass Arbeit in einer Fischfabrik zu vergeben sei. Es meldeten sich Freiwillige, andere wurden bestimmt. 2000 Menschen etwa, vor allem Ältere.« Sie wurden mit Lkw weggefahren und nie wieder gesehen. Aufgabe eines anderen Kommandos war es, Kleidungsstücke zu sortieren. Schließlich fanden sie darunter Kleidung von Angehörigen. »Da wurde Gewissheit: es gab keine Fischfabrik. Die Menschen sind in Bikernieki erschossen worden.« Unter ihnen wohl auch Heinz Samuels Großeltern. »Ich habe Urkunden, die ihren Tod auf Februar 1942 datieren.« Sein Onkel wurde gehängt, weil er sich warme Kleidung eingetauscht hatte, als er bei 40 Grad Minus mit anderen Gefangenen ein Arbeitslager errichten und auf freiem Feld kampieren musste.

In Riga starben auch die Großeltern von Ruth Gröne. Die Niedersächsin erlebte als Achtjährige ,wie sie nach Riga deportiert wurden. »Das war sehr schmerzlich. Wir haben zusammen gewohnt, und plötzlich waren sie nicht mehr da. Ich vermisse sie noch heute.« Damals wusste angeblich niemand, wo die vielen Menschen geblieben sind. Ruth Grönes Vater hatte sich für die Verladung der Deportierten gemeldet. »Um seinen Eltern zu helfen«, vermutet Ruth Gröne, die von über 1000 Menschen weiß, die aus Hannover deportiert wurden. Nach Riga, wie ihr Vater erfahren hatte. »Ich habe meinen Vater nie weinen sehen. An dem Abend hat er sich aufs Bett geworfen. Er hatte einen Zusammenbruch.« Nach dem Krieg wurden die Großeltern für tot erklärt. Bis heute weiß Ruth Gröne nicht, in welchem Haus sie in Riga gewohnt haben.

So wie diese verliert sich auch die Spur von Herbert Goldschmidt in Riga. »Herbert Goldschmidt war Bürgermeister in Magdeburg«, erzählt Dieter Steinecke, der sachsen-anhaltische Landesvorsitzende des Volksbunds Deutscher Kriegsgräberfürsorge. »Goldschmidt war Stellvertreter von Ernst Reuter. Als beide verhaftet wurden, musste er mit einer SS-Fahne durch die Stadt laufen - eine unglaublich demütigende Prozedur.« Reuter, der sich noch für seinen Freund und Stellvertreter eingesetzt hatte, konnte in die Türkei fliehen. Goldschmidt wurde 1942 nach Riga deportiert, wo er 1943 starb. Dieses Schicksal veranlasste die Stadt Magdeburg, dem Riga-Komitee beizutreten.

Der 92-jährige Historiker Margers Vestermanis hat sich um die Aufarbeitung der Geschichte verdient gemacht und spricht von einer jüdischen Tragödie und einer lettischen Schuld, als er am Lettischen Holocaust Gedenktag ans Mikrofon tritt. Wie konnte die SS in Lettland 30 000 Menschen in nur zwei Monaten ermorden? »Hier hatten die Nazis viele einheimische Helfer«, antwortet Vestermanis. Er weiß von lettischen, litauischen und estnischen Bataillonen, die eine Spur von Tod und Zerstörung hinterließen, nicht nur im Baltikum, sondern auch in Belarus. Die Freiwilligenbataillone unterstützten die SS im Kampf gegen die Partisanen, trieben Menschen in Scheunen, verbrannten sie.

Als die Pogrome begannen, wurden Nachbarn erbitterte Feinde, die plünderten und raubten, sich an Massakern beteiligten. Gerade in der ersten Nacht der Okkupation erlebte Riga eine regelrechte Gewaltorgie. »Es gibt schreckliche Zeugnisse davon«, erzählt Margers Vestermanis in fließendem Deutsch der Delegation. »Nahe dem jüdischen Friedhof wurde ein Massengrab gefunden, das typisch ist für wilde Erschießungen. Man hat die Leute geholt, manche angezogen, andere in Unterhosen. Viele wurden mit Gewehrkolben erschlagen. Wo die SS gewütet hat, gab es keine Dokumente. Hier hatten viele Tote Hochschuldiplome oder Pässe in den Taschen.«

Woher die Aggressionen kamen? Janis Racins wagt einen Erklärungsversuch. »Als Lettland 1940 von der Sowjetunion okkupiert wurde, haben viele Juden mit den Kommunisten kooperiert und gegen Letten gekämpft«, so der einstige lettische Militärattaché. »1941 kam die Stunde der Rache für die vielen, die nach Sibirien geschickt worden waren.« Zur Entstehung der Freiwilligenkommandos sagt Janis Racins: »Den Leuten wurde gesagt, sie müssten einen Auftrag erfüllen, sonst würden sie erschossen. Aber darüber spricht hier niemand. Es ist traurig, wenn manche versuchen, uns eine Mitschuld zu geben. Nicht die Letten haben das Ghetto organisiert und den Massenmord begangen. Lettland hat in der Nazizeit ein Drittel seiner Bevölkerung verloren.«

Tatsächlich gab es auch Letten, die ihre jüdischen Nachbarn schützten. Janis Lipke etwa, ein Hafenarbeiter, dem gemeinsam mit anderen Helfern direkt neben der niedergebrannten Synagoge ein Denkmal gesetzt wurde. »Es waren vor allem einfache Leute«, fand Winfried Nachtwei heraus. »Sie haben es nicht ausgehalten und geholfen. Es ist bemerkenswert, mit welcher Unverfrorenheit Janis Lipke mit dem Lkw ins Ghetto fuhr, Leute herausholte und vor dem Tod rettete.«

Heute gibt es in Riga etliche Gedenkorte, die an die Shoah erinnern. Doch vieles harrt nach wie vor einer Aufarbeitung. Margers Vestermanis bedauert, dass Namen lettischer Täter kaum bekannt sind. Ausnahmen sind Herberts Cukors und Viktors Arajs. »Geschichte braucht Namen. Man könnte sie massenhaft finden, doch das ist nicht gewollt.«

Vestermanis ist Mitglied einer Historikerkommission, doch die Zeit läuft dem 92-jährigen davon. Die jetzige Regierung habe kein Interesse an weiteren Publikationen. Das müsse man wissen, auch wenn der Präsident bei der Kranzniederlegung am Holocaust-Gedenktag zugegen war. »Wenn ein Kapo im Ghetto freundlich lächelte, war er ganz bestimmt ein großes Schwein«, wagt er einen Vergleich mit den 1940er Jahren. »Bei der Kranzniederlegung haben auch alle gelächelt. Dieses Lächeln ist nicht lebensbedrohlich, aber es ist symptomatisch für die Entwicklung in einem postsowjetischen Land.«