nd-aktuell.de / 29.07.2017 / Kultur / Seite 9

Im Reich des kleineren Übels

»Finis Germania« und »G20-Krawalle«: Über die Hysterie im Umgang mit unliebsamen politischen Positionen

Christian Baron

Wie viel Demokratie geht verloren, wenn der politische Streit nicht mehr in epischen Wortschlachten im Parlament und als geschmetterte Rede auf dem Marktplatz erlebbar wird? Was geschieht mit einer Gesellschaft, in der die großen Konflikte scheinbefriedet sind, in der politische Differenzen sich nur noch in Detailfragen zeigen - und in der dort, wo doch noch Visionen zu vernehmen sind, ein medial getriebener Furor abweichendes Denken vorsorglich dämonisiert? Unter Führung einer ihre Einschläferungstaktik mit Starrsinn verfolgenden Kanzlerin hat sich die öffentliche Arena der Bundesrepublik Deutschland in ein verbarrikadiertes Depot für persönliche Befindlichkeiten verwandelt.

Einige Beispiele der vergangenen Wochen und Monate markieren dabei einen Höhepunkt. Der 2016 gewählte US-Präsident handelt bislang kaum anders als manch früherer Amtsinhaber der Republikaner. Wegen seines Spiels auf der Empörungsklaviatur erzeugt Donald Trump aber einen seltsam einmütigen Chor, der ihn in eine Reihe mit den schlimmsten Verbrechern der Menschheitsgeschichte stellt. Die Bundestagsfraktionsvorsitzende der Linkspartei, Sahra Wagenknecht, formuliert ihre Sicht auf die politische Ökonomie von Krieg und Flucht und muss sich seitdem als rassistisch, fremdenfeindlich und nationalistisch beschimpfen lassen.

Das Buch »Finis Germania« des verstorbenen Historikers Rolf Peter Sieferle wird von vielen ungelesen als »rechtsextrem« gebrandmarkt und durch selbst ernannte Gesinnungspolizisten von der »Spiegel«-Sachbuchbeststellerliste gelöscht, auf dem es eigentlich den sechsten Platz eingenommen hätte. Die »Ehe für alle« wird von allen Seiten bejubelt - wer sich dagegen ausspricht, gilt als reaktionär oder homophob. Und die Hamburger G20-Randale durch ein paar gelangweilte Spätpubertierende avancieren zum Symbol für die angeblich in jedem linken Denken verankerte Neigung zur Gewalt.

Unsichtbar werden in diesen Debatten die Pläne der Machtmenschen hinter dem Dampfplauderer Trump. Unsichtbar wird auch die sogar von Teilen des Anti-Wagenknecht-Bollwerks innerhalb der Linkspartei aktiv unterstützte Abschiebepraxis der Bundesregierung. Die sich fortsetzende staatliche Diskriminierung von Nichtverheirateten kann keine Rolle spielen, wenn bei der »Ehe für alle« jedes Argument in Jubel, Trubel, Heiterkeit untergeht. Von den jeder gut gemeinten Intention zuwiderlaufenden Konsequenzen der Zensur und den Mechanismen der globalen Wirtschaftsdiktatur zulasten der Ärmsten ist im dauerbrüllenden Skandalisierungsmodus nicht mehr die Rede. Subjektive Analyse ist selten geworden, stattdessen dominiert die subjektivistische Hysterie.

Die um ihr Meinungsmonopol trauernden Medienmacher und Mandatsträger berufen sich in ihren Urteilen auf eine jenseits aller Ideologien angesiedelte Vernunft. Dabei ist jedes Behaupten von Objektivität im Sozialen ein Selbstbetrug. Ein Journalist oder ein Politiker kann eben nicht als teilnahmslos beobachtende Instanz die Gesellschaft bewerten. Er ist eben kein Naturwissenschaftler. In liberalen Demokratien sind die Bürger jedoch auf die Perspektive konditioniert, die staatliche Ordnung handele gerecht, weil neutral. In dieser Logik geht es selten in freier Debatte ums Ganze, sondern bestenfalls darum, das kleinere Übel zu wählen.

Ein liberalkapitalistisches Gemeinwesen benötigt gesetzliche Vorschriften, die den Menschen das Recht einräumen, nach einer vorgegebenen Definition des guten Lebens zu existieren (Linksliberalismus), und es braucht einen gemeinsamen Markt, auf dem die Menschen nach den Regeln eines freien Wettbewerbs alle legalen Waren und Dienstleistungen gegen Geld erwerben können, ohne vom Staat daran gehindert zu werden (Wirtschaftsliberalismus).

Beide Stränge des Liberalismus haben sozialen Fortschritt ermöglicht. Sie eint aber auch der Hang zur Individualisierung und Selbstverwirklichung, in letzter Konsequenz auch zu Berechnung und Bereicherung. Das könnte ein Grund sein, weshalb sich Medien und Politik rasant zu ökonomischen Effizienzmaschinen entwickelten. Der Philosoph Jürgen Habermas drückte das 2015 in der »Süddeutschen Zeitung« so aus: »Zur postdemokratischen Einschläferung der Öffentlichkeit trägt auch der Gestaltwandel der Presse zu einem betreuenden Journalismus bei, der sich Arm in Arm mit der politischen Klasse um das Wohlbefinden von Kunden kümmert.« Wollen die Kunden lieber Gefühle statt Argumente, dann bekommen sie das auch.

Dass diese Strategie wie ein Bumerang zurückkommen kann, das zeigt ein Exempel aus dem Bereich der ebenfalls der Hysterie anheimgefallenen Frauenrechte. Vor zwei Jahren veröffentlichte die damals 23-jährige Praktikantin Ronja von Rönne einen Artikel in der »Welt« mit dem Titel »Warum mich der Feminismus anekelt«. Der online noch immer einsehbare Text enthält alle Ingredienzen des hysterischen Zeitalters: Eine Autorin rammt ohne jede analytische Auseinandersetzung die blutig erkämpften Errungenschaften jenes Feminismus ungespitzt in den Boden, die es ihr überhaupt erst ermöglicht haben, einen solchen Beitrag in einer vergleichsweise auflagenstarken Zeitung unterzubringen. Die einzige Substanz, die Rönne ins Feld führen kann, ist ihre in der Ich-Form präsentierte Larmoyanz.

Der Artikel wurde zu einem der meistdiskutierten im deutschsprachigen Web des Jahres 2015. Rönne musste für ihren Subjektivismus einen hohen Preis zahlen: Die mit solchen Debatten noch unerfahrene Autorin ereilte ein heftiger Shitstorm, der sich vorwiegend in Gewaltandrohungen und Beschimpfungen erschöpfte. Ähnlich ergeht es regelmäßig all jenen, die es wagen, sich öffentlich gegen die Tilgung aller Spuren der Kolonialgeschichte aus der Kunst auszusprechen. Wer in den Werken von Erich Kästner und Astrid Lindgren aus heutiger Sicht als rassistisch zu verstehende Begriffe nicht streichen möchte, muss Glück haben, wenn er nicht in Fotomontagen bei Facebook als Gesinnungsgenosse von Joseph Goebbels diffamiert wird.

Weil kein Argument verletzte Gefühle übertrumpfen kann, lautet die Regel: Wer die schlimmsten Schmerzen kundtut und seine Ansichten als weltoffen und menschenfreundlich einschätzt, macht sich unangreifbar. Also verteufeln Leute aus dem politischen Spektrum von »Bild« bis »FAZ«, von der CSU bis zu den Grünen die Proteste gegen das Gebaren der politischen Elite und ersticken jeden Versuch einer inhaltlichen Diskussion in ihrem Jammern über vermeintliche Gewaltorgien.

Und also rücken manche Rolf Peter Sieferle in die Nähe von Holocaust-Leugnern, obwohl sich in »Finis Germania« keine Stelle aufstöbern lässt, die eine solche Behauptung rechtfertigt. Einen einzigen Satz gibt es, der zu diesem Thema brisant erscheint: »Auschwitz ist der letzte Mythos einer durch und durch rationalisierten Welt.« Sieferle leugnet damit nicht den Holocaust. Auch bei der Instrumentalisierung der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 oder des sogenannten Wirtschaftswunders lässt sich eine Mythisierung feststellen, ohne dass damit die Verdienste des DFB-Teams oder der Aufschwung geleugnet würden. Sieferle kritisiert die Geschichtspolitik. Das kann man zynisch finden oder relativierend und vielleicht sogar antisemitisch. Verbieten oder zensieren sollte man es nicht.

Sieferle steigert sich in seinem Pamphlet in eine rechte Apokalyptik hinein, die der Schriftsteller Rüdiger Safranski im »Deutschlandfunk Kultur« dem Genre der Nachtgedanken zuordnete, das schon Novalis und Heine nutzten. Safranski, der zuletzt ebenfalls die »nationale Frage« für sich entdeckt hat, ist ein weiteres Beispiel für den aktuellen Umgang mit unliebsamen politischen Positionen. Äußert er seinen Standpunkt zu Flüchtlingen und Grenzen, dann darf er sich mit Wirrköpfen wie Akif Pirinçci oder Udo Ulfkotte in einen Sack gestopft und geprügelt fühlen. Wer dem liberalen Wertekanon widerspricht, fliegt aus dem Diskursfenster. Das ist bequem. Intellektuell redlich ist es nicht.

Ein Pfeiler dieses Wertekanons ist die Meinungsfreiheit. Und ausgerechnet die wird durch Vertreter der liberalen Weltsicht gerade eingeschränkt. Sie verweigern das Gespräch mit jedem, der über die G20-Demonstrationen spricht, ohne sich zuerst wortreich von jedweder Gewalt zu distanzieren. Und sie manipulieren eine Institution wie die »Spiegel«-Bestsellerliste in der Hoffnung, dass ein ihnen nicht genehmes Buch dadurch weniger Aufmerksamkeit erhält. Natürlich tritt in aller Regel das Gegenteil ein. Die Redaktion verteidigte sich am Dienstagabend in einer Stellungnahme, der »Spiegel« trage eine »besondere Verantwortung«, weil er sich als »Medium der Aufklärung« verstehe. Aufklärung schafft dieser Vorgang vor allem über den Zustand einer kulturellen Elite, die lieber eigene Werte preisgibt, als fair um die eigenen Positionen zu kämpfen.