Loch in der Raumkapsel

Dieter Wedels dramatische Collage »Luther - Der Anschlag« in Bad Hersfeld: Gott, Gewalt, Gesetz

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Wir sind begierig, in andere Sphären einzutauchen. Unser realistischer Sinn drängt jederzeit ins Imaginäre. Wir sind, wo wir sind - doch mit der Fantasie immer auch woanders. Das ist ein Reflex, der jahrhundertelang vom Glauben bedient wurde - der dem Diesseits ein religiös begründetes Jenseits beigesellte. Aber auch ein Jenseits im Diesseits gibt es, ein beglückend wirklichkeitsfliehendes Gelände: die Kunst. Eine monumentale Stiftsruine genügt, ein altes Gemäuer. Schön! Trotz empfindlicher Abendkühle, dazu einem Regen, der dauerstark auf die Bühnenbretter klatscht und dessen Tropfen silberne Schraffuren in die Scheinwerferkegel über der Szene weben. Beeindruckender Stein - und zugleich exterritoriales Gelände: Geist, Gemüt, träumt euch hinweg! Obwohl die Kälte wahrlich peinigt und das herabrinnende Wetter aufweichend nervt, und dies trotz eines mächtigen schützenden Baldachins über den 1200 Plätzen der Zuschauertribüne. Wir sind bei den 67. Festspielen von Bad Hersfeld. Drei Stunden »Martin Luther - der Anschlag«, eine dramatische Collage, angereichert mit Motiven aus Luther-Stücken von John Osborne und John von Düffel, Buch und Regie: Dieter Wedel, Bühne: Jens Kilian, Musik: Jörg Gollasch.

Ganz hinten leuchtet neongelb ein großes Christuskreuz. Sanft schräg die Bühne. Drei Musiker am Rand geben dunkle, schmetternde, raunende, seufzende Zeichen. Geboten wird Theater, das tanzt, säuft, tafelt, predigt oder zum bedrängenden Schlagabtausch nach vorn an die Rampe rückt. Wenige Requisiten (und auf einer Leinwand Film und Fotografie) genügen zum Ortswechsel: Wittenberg, Rom, Reichstag zu Worms, die Wartburg. Wedel weiß um seine Spektakelpflichten im Freiluftbetrieb, es agieren über dreißig Darsteller und Dutzende Statisten, aber ihn bedrängt anderes, und die Kühnheit seiner Inszenierung besteht im durchgehaltenen Anspruch, eine geistige Konfliktlage zu offenbaren und mehr Reflexion als Drama zu sein: Wie lässt sich angesichts der Übel dieser Welt noch die Existenz Gottes erweisen, schon gar dessen Allmacht? Deren Grundimpuls ja die Liebe sein soll, die Gerechtigkeit, die Güte. Gott: eine Missbrauchsgeschichte.

Liebe, Gerechtigkeit? Filmbilder zeigen deutsche Flammenwerfer in der Sowjetunion, brennende Vietnamesen, kopfzerschießende bosnische Serben. Das 20. Jahrhundert im Schnelldurchlauf: eine brutale Überwältigungstechnik, zwischen die Spielszenen geschnitten. Prag, Naher Osten, Molotowcocktails gegen Springer, Intifada - was jeweils rebellisch oder Ordnung schaffend zur Welt kam, war nie der neue Gott, nie eine siegreiche vernünftige Idee, nicht die volkstiefe Läuterung, sondern nur immer, unter wechselnden ideologischen Hebammen, eine weitere kriminelle Fehlgeburt. Massen auf der Bühne. Das schöne Feuer des Protestes. Zeit des ersten Buchdrucks! Flugblätter flattern vom Regenhimmel. Aber dann: der Umschlag ins Wüten von Schlagstöcken. Ideen schlagen zu Buche, indem zugeschlagen wird.

Darf das alles eine einzige Bildfolge sein, braune Vernichtungsindustrie, roter Terror, schwarzer Block, Maos gelbe Intellektuellenvernichtung? Führer-Fanatismus und Fanblockrumor? Massenhysterie und Polizeipulk? Ja. Nein. Das Ja ist interessanter, weil es ein Recht der Kunst auf Verrat gibt. Sie darf die politische Korrektheit aus dem Sandkasten jagen. Sie darf ihre Solidarität mit den Elenden nicht aufgeben, aber sie darf sich ebenso wenig vor Fremdheit fürchten. Die im Moment entsteht, da Kunst das grundlegend Gnadenlose und Kriegerische der menschlichen Existenz, die Machtbestrebungen und totalitären Wahrheitsansprüche auf allen Frontseiten der Geschichte aufwirft. Ja: auf allen Frontseiten.

»Luther - der Anschlag«. Das meint dessen Aktion an Wittenbergs Schlosskirche, das Anhämmern der Thesen, aber das meint auch des Mannes elementare Sprengsatznatur, die Wedel just jetzt - da der Reformator landauf, landab geehrt wird - auch als gefährlich herausstreicht. Er hat keine Luther-Biografie entworfen, er zeigt drei Luther als Spiegel einer nicht wirklich fassbaren Gestalt, er setzt disparate Verhaltensweisen zwischen Mönch und Missionar, zwischen Demut und Demagogie, zwischen Askese und Aufruhr ins Bild: Janina Stopper gibt den jungen, zweifelnden, in sich gekrümmt Leidenden; Maximilian Pulst ist der auftrumpfend arrogante Luther, und Christian Nickel ist Reformator - und ideologischer Absolutist. Nickels Luther schreit antisemitische, antipäpstliche, antiplebejische, antimuslimische Tiraden heraus, und es gehört zur Klugheit dieser Darstellung, dass sie beides zeigt: Luthers Gehorsamkeitsfuror und dessen Aufwallungskraft, die tiefreligiöse Bezogenheit sowie die grobe Ausfälligkeit und protzige Auserwähltheitspose (was Wedel bewog, Luther den »Erfinder der Deutschen« zu nennen). Nickel vereint faszinierend Wirklichkeitshass mit Selbststeigerung. Ein scharfgeistiger Schwitzkopf, der aufklärt - und Schriften verbrennen lässt. Theologisch begründete Selbstzerfleischungen an der Grenze zur kalkulierten Egozentrik. Ein Theatraliker der Sinnsuche. Stark, wie diesem Schauspieler in drei Stunden mählich eine gerbende Reife und eine geradezu kluge Müdigkeit ins Gesicht wächst.

Bis dahin gräbt sich Wedel ins Widerspruchsfeld einer Zeit, die brodelt, ohne dass die Menschen es ordnen oder in eine fassbare Richtung denken können. Geht’s uns nicht auch so? Es ist zum Schreien: Das Einschwenken der Welt in jenen beglückenden Frieden, in dem wir leben - es ist auch der Weg in eine ethische Lähmung geworden, die zwischen dem Zorn, der jäh dreinschlagen will, und der Demokratie, die nur immer geduldig vorschlagen muss, keine Verbindung mehr zu finden scheint. Wohin? In Überdruss und Überdruck sind wir Übergangswesen, sind orientierungssüchtig Aufgekratzte, auf die zutrifft, was als Schriftzug auf der Leinwand erscheint: Stefan Zweigs Gedanke, es sei das »Gesetz der Geschichte, dass sie den Zeitgenossen versagt, die großen Bewegungen ihrer Zeit schon in den ersten Anfängen zu erkennen«.

Aufgeboten ist eine dauerrauchende Teufelin im Feuerrotkleid (Corinna Pohlmann), die Luther an die Wäsche geht - die der ohnehin ständig fallen lässt, weil ihn Darmprobleme quälen. Robert Joseph Bartl als Kardinal Cajetan: ein bestechend klerikaler Malocher zwischen Diplomatie und Inquisition. Erol Sander als Papst tendiert, mit Flinte, zum sehnigen Jäger. Benjamin Kramme spielt den Melanchthon als schmächtigen Gütigen, der sich ständig die Brille zurechtschieben muss. Uwe Dag Berlins Maler Cranach, mit Strohhut und Sonnenbrille, karikiert tänzelnd die müd-moderne Boheme. Mischmasch der Epochen in Kleidung und Kulissenwerk, es ziehen Bodyguards auf und SEK-Soldaterie.

Und wieder Filmfetzen zwischen NS und IS - Jan Hofer verkündet per »Tagesschau«-Stimme die brutale Lebendigkeit eines weltweiten religiösen Wahns, und Mareile Höppner (»brisant«) führt durch Luther-Wirkstätten - eine treffliche Skizze des touristischen Rummels und der History-Soaps; auf der Wartburg entgeht die Moderatorin knapp einer Vergewaltigung durch den isolierten, wahnnahen Bibel- Übersetzer.

Demokratie bleibt: gemeinsames Teilen von Schuld. Aber ist dieser Luther zu Teilen nicht auch ein lästiger Abgesandter unseres Unbewussten, das just dort hassen, zürnen, toben will, wo die Vernunft immer wieder zur Mäßigung treibt? Der kämpferische Reformator Karlstadt, den Christian Schmidt gibt, und vor allem der kerlige, trotz seines tödlichen Aussatzes so lebensgierige Ulrich von Hutten, den Marcel Heuperman erfrischend kraftvoll an Schillers Räuber heranspielt - beide verkörpern gewissermaßen unsere heimliche Sehnsucht: ins Ungebärdige auszureißen und nicht immer bloß die Stabilitätsnarren einer repräsentativen Demokratie zu sein, die an sich selbst ergraut und verödet.

Ach ja, Katharina von Bora. Elisabeth Lanz darf sie nur als Randgestalt geben. Liebe? Nickels Luther rammelt kalt und mechanisch. Eines der Kinder stirbt. Luther trägt das Linnenbündel zur Bühnenmitte. Oben, über der Ruine, der Ausschnitt offenen dunklen Himmels. Wie ein Loch, das jemand in eine Raumkapsel schlug. In der wir sitzen. Und der eben noch so harte, ungezügelte Rechthaber Luther steht inmitten, still, mit einem toten Kind im Arm. Plötzlich so elend, so klein, so traurig, so ohnmächtig, so überwältigt von der Härte des Diesseits. Dieses Gesicht fragt nur noch: Wie viel Ernüchterung verträgt der Mensch? Wer nur immer verkündet und missioniert und besser weiß, er mag noch so lauthals auftreten - einzig der Einsame, Erschütterte kommt wichtigen Wahrheiten am nächsten. Aus. Tosender Beifall.

Nächste Vorstellungen: 3. bis 5. August

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