nd-aktuell.de / 02.08.2017 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 17

Deutschlands Zukunft beginnt in Lampedusa

Laut einer Studie braucht es bis 290.000 Einwanderer pro Jahr, damit der Arbeitsmarkt nicht kollabiert

Roland Bunzenthal

Künftig wird Arbeitslosigkeit hierzulande kein Problem mehr sein - im Gegenteil. Im Jahr 2050 wird es ohne eine politische Gegensteuerung 15 Millionen Arbeitskräfte weniger geben als heute wie das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) errechnet hat. Das entspricht einem Rückgang um ein Drittel. Die Zahl der Geburten in Deutschland hat sich inzwischen zwar auf niedrigem Niveau stabilisiert. Damit die Bevölkerungszahl konstant bleibt, ist die Geburtenrate mit 1,4 Kindern pro Frau aber zu niedrig. Dabei sind die heute Geborenen die Fachkräfte der 40er und 50er Jahre dieses Jahrhunderts - sofern man ihnen die Chance für eine adäquate Ausbildung gibt.

Lässt sich die Lücke durch eine Steigerung der Erwerbsbeteiligung schließen? Der Wunsch vieler berufstätiger Frauen ist es, das Kinderkriegen auf später zu vertagen, um die eigene Karriere und finanzielle Unabhängigkeit nicht zu gefährden. Berufstätige Frauen werden deshalb später und seltener Mütter. Folge: eine demografische Lücke entsteht, weil der Bedarf der Wirtschaft an Arbeitskräften im Jahr 2050, insbesondere an solchen mit Fachkenntnissen, trotz anhaltender Rationalisierung und Digitalisierung in der Wirtschaft kaum kleiner werden wird, betonen die Forscher.

Derzeit beträgt das sogenannte Erwerbspersonenpotenzial (alle 15- bis 65 jährigen) rund 49 Millionen Menschen. Davon sind etwa 44 Millionen erwerbstätig und der Rest je zur Hälfte arbeitslos oder in der Stillen Reserve. Durch die stärkere Erwerbsbeteiligung der Frauen sowie der älteren Arbeitnehmer könnte die Lücke allenfalls um drei bis vier Millionen Erwerbstätige verkleinert werden, so die Wissenschaftler vom IAB. Selbst die von der Wirtschaft geforderte Rente mit 70 helfe nur vorübergehend bei diesem Problem.

Eine Chance, die Arbeitskräftelücke größtenteils zu schließen, böte nur eine anhaltend hohe Zahl an Zuwanderung. Doch was ist an Integration machbar? Das IAB geht von einer realistischen Größenordnung von 220.000 bis 290.000 Migranten jährlich aus, die notwendig und verkraftbar wären.

Unter den Einwanderern dominieren derzeit noch Arbeitnehmer aus dem EU-Ausland, die völlige Freizügigkeit bei der Jobsuche genießen. Mit dem wirtschaftlichen Aufholprozess ihrer Heimatländer und der dort ebenfalls alternden Bevölkerung werde der Anreiz zur Wanderung nach Deutschland aber abnehmen, meinen die Autoren der Studie, Michael Lichtlein und Alexander Kubis. Das heißt, dass der Anteil der Zuwanderer aus Drittstaaten tendenziell steige, derjenigen aus der EU hingegen abnehmen wird. Die »asylbedingten Wanderungsgewinne« seien vermutlich nur vorübergehend. Eine stärkere Öffnung der Grenzen könnte dem Rückgang jedoch »signifikant entgegen wirken«. Allerdings seien die gegenwärtigen Einwanderer aus Drittstaaten überwiegend »arbeitsmarktfern«, ihnen fehlen demnach häufig ausreichende Deutschkenntnisse und Berufsausbildung. Dies erfordert besondere Anstrengungen von Staat und Wirtschaft.

Die Forscher des IAB haben außerdem aus früheren Erfahrungen mit zugewanderten Flüchtlingen abgeleitet, dass nach fünf Jahren des Aufenthaltes allenfalls die Hälfte dieser Gruppe in den Arbeitsmarkt integriert sein wird. Erst nach 15 Jahren dürften die Migranten mit einer Erwerbsquote von rund 70 Prozent das Beschäftigungsniveau der einheimischen Bevölkerung erreicht haben. Und auch von den Bundesbürgern mit ausländischem Pass sind 521.000 offiziell als arbeitslos gemeldet. Dies entspricht einer Quote von 14 Prozent und liegt damit weit über der allgemeinen Arbeitslosenrate.

Generell gibt es verschiedene Strategien die Zahl der Erwerbstätigen zu steigern. SPD und FDP zum Beispiel schlagen in ihren Wahlprogrammen vor, die Qualifikation der ausländischen Bewerber durch ein Punktesystem zu bewerten und vorgegebene Einwanderungsquoten zu füllen - indirekt ein Plädoyer für ein Einwanderungsgesetz.

Doch die meisten Unternehmen hinken dem noch nach. Bei einer Umfrage des IAB bei verschiedenen Betrieben gaben 16 Prozent der Befragten an, sie planten Flüchtlinge einzustellen. Derzeit haben rund vier Prozent der Betriebe gezielt Geflüchtete eingestellt. Acht Prozent der Unternehmen bieten speziell Jugendlichen auf der Flucht mit ausreichenden Deutschkenntnissen einen Ausbildungsplatz an.