nd-aktuell.de / 09.08.2017 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 16

»Wir brauchen eine Gewerkschaft 4.0«

Valter Sanches von IndustriALL im Gespräch über die Digitalisierung

Simon Poelchau

In Deutschland ist die Digitalisierung ja derzeit ein großes Thema. Wie schaut es auf globaler Ebene aus?
Ich sorge mich derzeit mehr um die Menschen, die in der Industrie 0,4 arbeiten als um die, die in der Industrie 4.0 arbeiten.

Warum?
Die Digitalisierung ist vor allem in Ländern wie Deutschland ein großes Problem, wo hohe Löhne gezahlt werden. Doch so lange in Ländern wie Bangladesch, Myanmar, Kambodscha oder Vietnam so niedrige Löhne bezahlt werden, wird dort weiter produziert wie bisher. Die Arbeitsbedingungen sind da so schlecht, dass sich die Digitalisierung in Branchen wie der Textilindustrie einfach nicht lohnt.

Wie schlimm sind die Bedingungen der Arbeiter in diesen Ländern?
90 Prozent der Arbeiter in Indien sind im informellen Sektor beschäftigt. Das heißt, dass sie meist noch nicht einmal einen individuellen Arbeitsvertrag haben. In Bangladesch arbeiten die Menschen unter üblen Bedingungen 60 Stunden die Woche und bekommen dafür 68 US-Dollar den Monat.

Glauben Sie, dass man die reichen Industrieländer dazu bringen kann, etwas gegen diese Bedingungen zu tun, von denen sie oftmals in Form von billigen Textilien profitieren?
Zwei Monate vor dem G20-Gipfel war das L20, Labour20-Treffen aller großen Gewerkschaftsverbände. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel war da und sprach davon wie wichtig Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte seien. Doch gleichzeitig sind in Zusammenschlüssen wie den G20 auch Länder wie die Türkei, Indien, Brasilien, Argentinien und Indonesien, in denen diese Rechte systematisch verletzt werden.

Wie können dann die Bedingungen entlang der globalen Wertschöpfungskette verbessert werden?
Zunächst müssen wir für unser Recht kämpfen, uns in Gewerkschaften zu organisieren. Dann erst können wir uns an den Verhandlungstisch setzen. In Bangladesch zum Beispiel wurden die Gewerkschaften kriminalisiert, als die Textilarbeiter begannen, für höhere Löhne zu kämpfen. Deren Anführer wurden festgenommen und 1600 Arbeiter gefeuert.

Dieser Konflikt wurde auch hierzulande wahrgenommen.
Das einzige, was da geholfen hat, war internationale Solidarität. Wir starteten deswegen eine internationale Kampagne in fast 40 Ländern und übten so Druck auf die Konzerne aus, die in Bangladesch produzieren und mit denen wir Vereinbarungen haben. Am Ende konnten wir uns mit der Regierung einigen und die festgenommen Gewerkschafter kamen frei.

Ihr Rezept gegen die Folgen der Globalisierung ist also eine Globalisierung der Arbeiter?
Ja. Wir brauchen eine Gewerkschaft 4.0.

Sie sprachen den Textilkonflikt in Bangladesch an. Nach der Katastrophe von Rana Plaza 2013, wo eine marode Textilfabrik einstürzte und 1138 Menschen in den Tod riss, waren die katastrophalen Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie des Landes in aller Munde. Es wurde ein Textilabkommen geschnürt, in dem sich die Branche zu mehr Transparenz in den Lieferketten und besseren Arbeitsbedingungen verpflichtete. Meinen Sie, dies hat etwas gebracht?
Solche Vereinbarungen bringen nur etwas, wenn man den Druck auf die Konzerne aufrecht erhält. Man kann zwar einen Vertrag mit der Industrie machen, aber so lange man nicht deren Einhaltung überwacht, werden die Unternehmen nur Hungerlöhne bezahlen und unter miesen Bedingungen produzieren lassen.

Und wie läuft die Überwachung derzeit ab?
In der Textilindustrie haben wir jetzt nationale Überwachungsgremien, an denen auch die Gewerkschaften beteiligt sind. Da können Probleme in der Tat gleich gelöst werden. Doch betrifft dies nur einen kleinen Teil der globalen Wertschöpfungsketten. Deswegen bleibt es dabei, dass am Anfang allen Fortschritts die gewerkschaftliche Organisierung steht.