nd-aktuell.de / 09.08.2017 / Kultur / Seite 13

Gras wächst wie Grauen

Salzburger Festspiele: Andrea Breth inszenierte »Die Geburtstagsparty« von Harold Pinter

Hans-Dieter Schütt

Die Natur ist hilfsbereit. Denn das Gras, das über ihn wachsen wird, kommt dem Menschen entgegen: Hier, in dieser alten britischen Pension am Meer, durchbrach der Strandhafer den Fußboden, Sand hügelt das Zimmer ein. Und draußen das Boot, das zunächst eher ein Schatten war, ragt irgendwann in den Raum. Die Leute dieser Öde erfahren eine unerbittliche Umarmung durch Wahrheit: Verwitterung, Verwahrlosung, Vernichtung. Das Böse kommt von außen, der Mensch nennt es: die Verhältnisse. Er verdrängt, dass er selber das Behältnis ist, in dem das Unglück wuchert - bis es sich mit dem Außen erstickend verbindet.

Harold Pinters Dramatik: das Reale sehr unwirklich, das Unwirkliche sehr real. Die - kaum mehr gespielten - Stücke des Literaturnobelpreisträgers von 2005 zeigen, dass alles grausam Absurde urplötzlich aufplatzt. Mitten in der routinierten Täglichkeit des Lebens. In der »Geburtstagsfeier« zum Beispiel - 1958 uraufgeführt - wird zwar eine Scheibe geröstetes Frühstücksbrot wie eine wunderbare Überraschung bestaunt, aber die blitzschnelle Umfunktionierung eines Menschen in eine willige Apparatur vollzieht sich in merkwürdiger Wahrnehmungslethargie aller Beteiligten.

Die abgewirtschaftete Pension wird von zwei dubiosen Männern heimgesucht, zwei Typen wie Herr und Knecht oder Boss und Büttel, und der einzige Langzeitgast in dieser Absteige, ein müder, schmutziger Rest Mensch, der seine Fußhornhaut herumstreuselt - ihm wird eine ominöse Geburtstagsfeier ausgerichtet, die ihn angstschlotternd macht. Am nächsten Morgen führen ihn die beiden Männer ab. Er ist verwandelt, zungenlos, missbrauchsfähig wie Galy Gay, jener kleine Kerl, der in Brechts »Mann ist Mann« einen Fisch kaufen geht, in Söldnerhände gerät und quasi im Handumdrehen zur soldatischen Kampfmaschine umgebaut wird.

Andrea Breth (Bühne: Martin Zehetgruber) hat das Stück für die Salzburger Festspiele inszeniert, am Landestheater der Stadt. Die Regisseurin ist eine Lebensgräberin in den Grüften toter Texte. Ihre jüngsten Arbeiten fürs Schauspiel waren in besonderem Maße Gespenstersonaten; die Liebe zum Theater als ein unbedingter Nachtseitensprung. Der Einzelne als Elementarteilchen - formbar, kaum geschützt vom eigenen Willen, denn: Lass nur die falsche Gelegenheit kommen, und du bist in einer rasenden Geschwindigkeit nicht mehr du selbst. Kafka lässt grüßen: Du bist schneller einem Schuldspruch zugeordnet, als du leben kannst.

In Pinters Dramatik zerstiebt die Selbstüberschätzung aller geschichtlichen Therapeuten und Prognostiker. Das kommt Andrea Breth entgegen: keine Erklärung, keine Vermittlung, keine Deutung. Vorgänge, als hätten sie keinen Hinter-, keinen Untergrund. Wissen ist ohnehin Täuschung. »Pinteresk« wurde zur Metapher für diese Ästhetik der beredten Sprachlosigkeit. Das Psychodrama hat eine etwas grobe Affäre mit der Groteske; das Gruselmärchen zwinkert dem Lehrstück zu; die Parabel setzt sich beim Küchendrama an den Tisch.

Max Simonischek ist Pensionsgast Stanley, ein verschmuddelter Klavierspieler, der aus lauter Biografielücken besteht; erst verwirrt, verschlossen, dann aufmüpfig und schließlich nur noch mattes dürres Fleisch. Roland Koch und Oliver Stokowski sind die beiden Fremden, ein Duo zwischen getarnt schneidiger Tücke des einen und dumpf walzendem Zugriffsinstinkt des anderen. Der giftige Galan und der derbe (auf Hessisch) plauderpolternde Golem, dessen zugeknöpfter Anzug eine ganze Welt aus Enge und gepresstem Herzen erzählt. Andrea Wenzl als Nachbarin Lulu ist mit geübter Teile-und-herrsche-Logik das sexuelle Schwungrad dieser gnadenlosen Mechanik von Übergriff und Ausgeliefertsein.

Nina Petri und Pierre Siegenthaler sind das Wirtspaar; sie von souverän zäher Aushaltekraft; er dagegen hüllt sich in eine Schutzmaske der schabloniert protestierenden Statements - so kann er zwar anprangern, was sich abspielt, darf sich aber einreden, zu schwach fürs Eingreifen zu sein. So leben wir, die Menschenart, weiter und werden nie sterben. Überleben heißt: übersehen, was gefährlich ist.

Was in der »Geburtstagsparty« auf den ersten Blick staubbeutlig wirken mag, ist auf den dritten, vierten Blick doch (wieder) ziemlich akut: Jeder behauptete politische, geschichtliche Durchblick - nach wie vor eine Lüge. Alle behauptete Klarsicht auf die Verhältnisse - noch immer eine penetrante Einbildung von Besserwissern. Aufklärung kann so ödend sein wie die Einfalt - das beweist allein schon jeder Partei-Sermon. Pinter (1930 - 2008) und Breth geben dem Grauen keine soziale, politische Kontur, das Mahlwerk der undurchdringlichen, den Menschen fressenden Mächte ist eine anonyme Kraft, weniger gesellschaftlich begründet als unfassbar metaphysisch. Das steigert den Horror und macht es nur wahrhaftiger - jenes Unheimliche, das dich mitunter umfängt, jenes Weltentwicklungsgesetz, das du einfach nicht rauskriegst.

Die Inszenierung hat Angst, sie kennt unser Leben: In jeder Kleinigkeit lauert der Keim der Katastrophe. Hinterm Fenster nebenan: Du hörst die Schreie nicht. Im Lächeln neben dir: Du ahnst den Denunzianten nicht. Im Parteibüro nebenan: Du ahnst den Putschisten nicht. Bewegung tut gut? Sagt der Amokläufer und macht sich auf den Weg, der hoffentlich nicht zufällig auch deiner ist. Szenen wie kurze Filmschnitte.

Dazwischen Blacks. Die Gestalten schauen ins Wesenlose, erstarren, verfallen in Zeitlupe. Tee servieren, eine Zeitung umblättern, der Biss in einen Toast: laute, symbolknallige Geräusche, erzeugt auf der Thriller-Tastatur. Übertrieben, überspannt, überdehnt. Zelebrierter Schrecken, das zieht sich hin, das ist eine Geduldsprüfung, das geht auf kein hurtiges Abspiel zu. Manchmal fällt das Beklemmende sogar mit Betulichkeit zusammen.

Andrea Breth inszenierte meisterlich trocken, unnachgiebig genau, und genau ist hier auch: ausführlich. Wir haben Augen in alle Richtungen, wir haben Sonden in alle Systeme, wir haben bezahlte Seher in alle Zeiten, wir beschäftigen Sendboten aller Art - aber niemand erkennt, was sich über uns zusammenbraut. Wie lange muss etwas an uns, in uns reiben, bis die Nerven blank liegen?

Nächste Vorstellungen am 10., 12. und 13. August