nd-aktuell.de / 11.08.2017 / Kommentare

Der »Merkelismus« und die Linke

Ist die Wahl schon gelaufen? Und wenn ja, wer stört sich noch daran? Über das Politikdefizit der Linken und die Methode der Kanzlerin

Alban Werner

»Politiquement, il existe moins des hommes exceptionnels que d'exceptionnelles projections.« (Philippe Braud)

»Merkels Geheimnis ist ihre innere Synchronisierung mit der Sehnsucht der Deutschen nach etwas, was sie im letzten Jahrhundert selten erleben durften. Sie antwortet auf die Sehnsucht nach Normalität. Schon jetzt kann man sagen, die Merkel-Jahre waren eine Zeit, in der man die heilige Hochzeit einer Population mit der Gewöhnlichkeit feierte. Ermöglicht wurde das seltsame Fest durch den Umstand, dass Angela Merkel in psychologischer Sicht eine Container-Persönlichkeit verkörpert. In Hohlraum-Figuren dieses Typs deponieren zahllose Menschen etwas von ihren Hoffnungen, ihren Ärgernissen, ihren Träumen, ihren Niederlagen, ihren Sorgen, ihren Müdigkeiten. Im Container-Politiker ist Platz für jede Projektion. Der natürliche Preis einer solchen Delegation ist Entpolitisierung. Wo Politik war, wird betreutes Dahindämmern.« (Peter Sloterdijk)

Wettrennen um den Platz auf »Muttis Schoß«

Wir leben in bemerkenswerten Zeiten. Während sich die AktivistInnen aller Parteien anschicken, Plakate zur Bundestagswahl aufzuhängen, scheint das Wichtigste am Ausgang der Abstimmung am 24. September schon gelaufen zu sein. Für die meisten medialen BeobachterInnen ebenso wie die deutliche Mehrheit der WählerInnen scheint bereits klar, dass Angela Merkel Bundeskanzlerin bleiben wird. Allenfalls welche Partei oder Parteien neben der Union am Kabinettstisch platz nehmen darf (oder dürfen), scheint noch durch das Ergebnis des Wahlabends entschieden zu werden.

Die Sozialdemokratie hat sich im Grunde genommen Merkel bereits ergeben. Wenn Ex-Parteivorsitzender und Außenminister/Vizekanzler Sigmar Gabriel kürzlich einer Wiederauflage der Großen Koalition eine Absage erteilt, ist dies das Eingeständnis, an einen Wahlausgang mit der SPD als stärkster Partei nicht mehr zu glauben. Die SPD hat ihre Ansprüche soweit herunterkorrigiert, dass sie nur noch darauf hofft, der Kelch der Koalitionsteilnahme möge an ihr vorübergehen.

Die Bündnisgrünen überspielen derweil, dass sie nicht mehr von politischen Entwicklungen profitieren, die vor einigen Jahren noch ein Elfmeter für sie gewesen wären. Aber gegen das Kartell von Automobilkonzernen, die Dieselfahrzeuge unter falschen Ausstoßdaten verkaufen, nimmt man Bündnis 90/Die Grünen die klare Kante nicht mehr ab, wenn ihr erster Ministerpräsident im Bemühen um ein landesväterliches Kümmerimage und um die Sicherung von Arbeitsplätzen um Absprachen mit dieser Industrie bemüht ist. Ein Funktionär des sogenannten »Realo«-Flügels rannte vor einiger Zeit offene Türen ein, als er einforderte, seine Partei müsse »den Kampfmodus gegen die Gesellschaft aufgeben«. Wenn die ehemalige Anti-Parteien-Partei heute Banalitäten plakatiert wie »Menschenrechte kennen keine Obergrenze«, »Mut ist stärker« oder »Zwischen Wirtschaft und Umwelt gehört kein 'oder'«, dann reicht der »Kampfmodus« nicht weiter als für rhetorische Spitzen gegen eine mit ihrer Forderung ohnehin (bis auf die AfD, mit der ohnehin niemand kooperieren will) isolierte CSU oder die FDP. Vielmehr tritt so eine Partei auf, die sich darauf eingerichtet hat, nur die ihr ohnehin zuneigenden Milieus anzusprechen.

Machtferne Projektionen der Linken

Allerdings gibt die antineoliberale Linke auch kein zufrieden stellendes Bild ab. Während alle anderen Parteien stillschweigend Angela Merkel als Dreh- und Angelpunkt der deutschen Politik akzeptiert haben, drücken sich DIE LINKE und die verschiedenen Bewegungen in ihrem Orbit um die Frage herum, was dieser Zustand für die Realisierungschancen ihrer politischen Forderungen bedeutet. Es scheint, als würde ihre Tagesordnung in abwechselnder Reihenfolge belegt von Abarbeitung an der Sozialdemokratie, von der unerwarteten parteipolitischen Konkurrenz um Protest- und WechselwählerInnen durch Bündnisgrüne, PIRATEN und AfD, von den verschiedenen linken Vorbildern anderswo wie NPA, Occcupy, SYRIZA, Podemos, Bernie Sanders, Jeremy Corbyn usw. oder von AutorInnen wie Streeck, Piketty, Mason, Eribon usw, deren Werke, weil aktuelle Stimmungslagen ansprechend, im fortschrittlichen Feuilleton herumgereicht und regelmäßig zu großen Anstoßgebern überhöht werden.

Mit etwas Distanz betrachtet muss es eigentlich irritierend erscheinen, dass Fragen der politischen Methode, der Durchsetzung eigener Vorhaben und der unter nicht-idealen Zuständen wahrscheinlich unvermeidlich auftretenden Kompromisse, Zugeständnisse, Deals und Niederlagen erst dann bundesweit auf dem Radar der Partei auftauchen, wenn wieder einmal mit dem Zeigefinger des moralisch aufgeladenen politischen Urteils auf jemanden gezeigt werden kann. Die GenossInnen der Brandenburger LINKEN können ein Liedchen davon singen, dass sich eigentlich erst dann jemand für ihr Tun und Lassen interessierte, als ihr Koalitionsvertrag mit der SPD 2009 auftauchte und sie sich unter dem Eindruck einer Hausbesetzung in der Parteizentrale durch Öko-AktivistInnen für die Energiepolitik ihres Bundeslandes rechtfertigen mussten. Sie und die mitregierenden GenossInnen in Thüringen und Berlin sahen sich erst jüngst nach der Bundesratsabstimmung über die Autobahngesellschaft der geballten Wucht innerparteilicher Anklagen gegenüber.

Freilich gehört die interne Kritik unverzichtbar zur politischen Kultur einer (linken) Partei hinzu. Bereits oberflächlich gesehen muss jedoch auffallen, dass es an Selbstkritik der KritikerInnen fehlt. Dabei weisen oft genug für jeden moralischen Zeigefinger drei Finger auf die Anklagenden zurück. Man kann legitimerweise die Auffassung vertreten, dass die mitregierende LINKE in Thüringen, Berlin und Brandenburg sich trotz schwieriger Erpressungslage anders hätte entscheiden und mit den Folgen hätte leben müssen.

Aber dann müssten gerade die KritikerInnen aus den alten Bundesländern zugestehen, dass diese Erpressungslage erst durch die schwache Position der Linken im Bundesrat auch mangels stärkerer linker Präsenz dort einschließlich eigener Landtagsfraktionen zustandekommen konnte. Weiterhin auffällig ist die einseitige Aufmerksamkeit gegenüber den mitregierenden GenossInnen. Während Fehltritte sofort mit Anklagen bedacht werden, nimmt man Kurskorrekturen, Selbstkritik und überraschende Erfolge kaum zur Kenntnis. Blickt man unter die Oberfläche dieser inkonsequenten Verhaltensweise, trifft man auf ein Defizit der Linken nicht nur in einzelnen Politikbereichen, sondern in der politischen Herangehensweise schlechthin.

Tiefenbohrung zum Politikdefizit der Linken

Eine Seite der klaffenden Lücke politischer Methodik hat Albrecht von Lucke anlässlich des Todes von Altkanzler Helmut Kohl diagnostiziert. Er schrieb dem fortschrittlichen Spektrum insgesamt ins Stammbuch, es mangele ihm an drei Merkmalen, durch die der von Intellektuellen gerne gering geschätzte Pfälzer sich auszeichnete und die sich seine Schülerin Angela Merkel hervorragend angeeignet hat: Erstens war Kohl ein unbedingter Macht- und Gestaltungswille zueigen, der nahezu antagonistisch zur Machtabstinenz steht, die viele Linke (ob offen oder uneingestanden) als Wahrzeichen ihrer moralischen Überlegenheit ansehen. Zweitens hatte Kohl die Bereitschaft, für die eigenen Vorhaben stets moderne Mittel einzusetzen und auf der Höhe der Zeit politische Willens-, Bündnis- und Strategiebildung zu betreiben. So machte Kohl aus der Honoratiorenpartei CDU eine schlagkräftige Volkspartei und unterhielt ein beispielloses Netzwerk an Kontakten bis auf die Kreisverbandsebene. Drittens zeichnete Kohl ein politischer Instinkt aus, die Verflüssigung ansonsten gefestigter Strukturen in Krisenkonjunkturen für eigene Zwecke zu nutzen.

Bei allen drei Punkten jedoch zaudert, kneift und schweigt die politische Linke. Den Macht- und Gestaltungswillen mag sie nicht aufbringen, weil dies zum Teil heftige Klärungsprozesse über die Prioritätensetzung der eigenen Forderungen, über den Spielraum akzeptabler Kompromisse sowie über die Dialogbereitschaft gegenüber der politischen Konkurrenz voraussetzte. Vor allem aber setzte es voraus, sich mit der Logik von Politik in den kapitalistischen Demokratien von heute auseinanderzusetzen. Denn in diesen wird die Agenda besetzt von Aufgaben, die nicht immer in das heroisch-sozialistische Schema passen.

Ein häufiger linker Instinkt besteht dann darin, sich auf den eigenen Oppositionsstatus zurückzuziehen, um sich dem Problem nicht mit ganzer Konsequenz stellen zu müssen. Es beginnt auf kommunaler Ebene, wenn linke Fraktionen in Gemeinderäten und Kreistagen sich um eine kohärente Position zum Haushalt drücken und sich damit beruhigen, auf sie komme es wegen andersfarbiger Mehrheiten sowieso nicht an. Es setzt sich fort, wenn Landtagswahlprogramme geschrieben werden, die in erheblichem Umfang Befugnisse und Aufgaben eines Landtags verfehlen. Und es endet nicht damit, wenn DIE LINKE auf Bundesebene glaubt, die Politik der pazifistisch-weißen Weste durch Verbote von Rüstungsexporten sowie die dogmatische Absage an Militäreinsätze seien schon ein hinreichender Beitrag, um die »aus den Fugen geratene Welt« zu befrieden.

Die Linke kann auch kaum für sich beanspruchen, auf dem höchstmöglichen Stand politischer Instrumente zu operieren. Schon bei der Bundestagswahl 2013 beschämte der Wahlspot der IG Metall jegliches Kampagnenmaterial aller Parteien. Nach vergleichender Beobachtung der originellen, frechen, volksnahen Öffentlichkeitsansprachen durch Bernie Sanders, Jeremy Corbyns UnterstützerInnen von »Momentum« oder von Jean-Luc Mélenchons »France Insoumise«-Bewegung verblasst das Material der deutschen Linken deutlich. Es bleibt der Verdacht, dass die Parteien und angegliederte Apparate nicht mit allzu originellen Mobilisierungsmethoden aus ihrer Komfortzone gerissen werden sollten.

Die Nutzung politischer Krisen oder regelmäßig auftretender Gelegenheiten schließlich ist nicht das Geschäft der Linken oder der LINKEN. Man erinnere sich nur an das wenig vorteilhafte Bild bei den gleich mehrfachen vorzeitigen Amtsniederlegungen von Bundespräsidenten unter Angela Merkel oder an den nicht in Rückenwind für einen linken Kurswechsel verwandelten Erfolg der Konjunkturprogramme gegen die Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008ff.

Der Kern der Merkelschen Methode

Derzeit bin ich noch unentschieden, ob man plausibel von »Merkelismus« sprechen kann, wie man vom »Thatcherismus« spricht, also von einem politischen Stil und Inhalt, der eine Ära und die sie kennzeichnenden Konflikte prägt. Denn im Unterschied zur damaligen britischen Premierministerin hatte Angela Merkel nach ihrer Wahl zur Regierungschefin keinen roten Faden einer inhaltlichen Agenda mehr. Im Zuge der Eurokrise festigte sie maßgeblich das austeritär-autoritäre Europa, aber innenpolitisch gab sie radikalere eigene Reformvorhaben nach Durchsetzung der Rente erst ab 67 weitestgehend auf.

Dennoch prägt Merkel unsere Zeit durch ihre politische Methode: Merkel antizipiert und analysiert messerscharf das Kräfteverhältnis auf dem politischen Sachgebiet, zu dem sie sich verhalten muss. In Abhängigkeit davon, wie viel Aufmerksamkeit und Leidenschaft das Thema erregt und wie krisenhaft das politische Umfeld erscheint, ermittelt Merkel die denkbaren politischen Handlungskorridore. Die Kanzlerin wählt zuverlässig fast immer denjenigen Korridor aus, der die größtmögliche Vermeidung politischer Konflikte verspricht. Merkel vermeidet für gewöhnlich die symbolische Aufladung politischer Entscheidungsfragen wie der Teufel das Weihwasser und optiert für ein technokratisches Management hinter den Kulissen – ein »Durchregieren«, bereinigt um den weitreichenden Anspruch auf Steuersenkung, Deregulierung und Sozialkürzungen, mit dem sie 2005 noch in den Bundestagswahlkampf gestartet war. Merkels Methode der »Politik auf leisen Sohlen« ist auch eine Konsequenz daraus, dass ihr öffentlichkeitswirksame Bekenntnisse und ein politischer Angriffsmodus gegenüber der Konkurrenz nicht gut bekommen waren – weder beim »Häftling Gerhard Schröder«-Plakat anlässlich der Riester-Rente, noch bei ihrer öffentlichen Abgrenzung von Schröders Irak-Politik in der »Washington Post«, noch mit dem neoliberalen Leipziger Programm. Wenn Merkel doch ein starkes Bekenntnis wagt wie gegen PEGIDA, wie bei ihrem kategorischen Nein zu Eurobonds oder wie bei ihrem »Wir schaffen das« anlässlich der sogenannten Flüchtlingskrise, dann gibt das Aufschluss nicht nur über ihren oft undurchsichtigen Wertehaushalt, sondern zeigt zugleich an, dass sie sich bei der gewählten Option ausreichend großen Rückhalt oder zumindest nur vernachlässigbaren Gegenwind ausrechnet.

Die Ausweitung der Konsenszone

Nun kann man kann trotz Merkels absehbarer vierter Amtsperiode nicht davon sprechen, dass die Union in Deutschland eine unumstößliche Hegemonie besäße. Dafür hat sie in den vergangenen 15 Jahren zu oft und zu viele Staatskanzleien und Rathäuser verloren oder nicht gewonnen und hat in der Zivilgesellschaft an Rückhalt eingebüßt. Aber anders sieht es hinsichtlich der grundlegenden politischen Herangehensweise aus.

Was wir in Deutschland seit 2005 erlebt haben, ist eine beträchtliche Ausweitung der Konsenszone. Zwar gilt die politische Kultur der Bundesrepublik im internationalen Vergleich im Allgemeinen als stärker konsensorientiert als beispielsweise das Vereinigte Königreich oder Frankreich. Aber wie sich das Profil der Auseinandersetzungen in Deutschland geändert hat, geht über das angestammte Bild noch deutlich hinaus. M. Rainer Lepsius unterscheidet in einem klassischen Aufsatz zur politischen Kultur zwischen einer konfliktiven Rhetorik in Wahlkampfzeiten und einer kooperativen realpolitischen Praxis in Routinezeiten, die durch Föderalismus und Bundesrat sowie Koalitionsdisziplin aufgenötigt werde. Heute ergibt sich allerdings ein Bild, bei dem bereits von vornherein politische Positionen abgeschliffen und politische Kampagnen auf ein Niveau domestiziert werden, das im Grunde die Möglichkeit einer Allparteienkoalition (ausgenommen LINKE und AfD) in fast allen Sachfragen eröffnet.

In der Einwanderungspolitik ist die Union bereits vor der sogenannten Flüchtlingskrise von der deutschen Lebenslüge abgerückt, die BRD sei keine Einwanderungsgesellschaft. Zugleich haben die Bündnisgrünen den Begriff der »Leitkultur«, einst von Friedrich Merz als konservative Kampfvokabel in die parteipolitische Arena überführt, inzwischen für sich adaptiert, zusammen mit der SPD haben sie mehrere Asylrechtsbeschränkungen mitgetragen, während die SPD faktisch auch den flüchtlingspolitischen Deal mit Erdogans Türkei mitverantwortet. In der Europapolitik haben alle Parteien außer der AfD und der LINKEN die desaströse Krisenpolitik Angela Merkels mitgetragen. Der neue französische Präsident Macron wurde beinahe unisono von allen Parteien als großer Hoffnungsträger begrüßt, obwohl sich seine Politik von der François Hollandes vor allem durch hübschere Verpackung unterscheidet. Geschlechterpolitisch hat sich die Union inzwischen damit abgefunden, dass das patriachalische Leitbild des »männlichen Ernährers« im Bismarckschen deutschen Wohlfahrtsstaat durch das des doppelverdienenden Elternpaares abgelöst wurde. Sogar die CSU ist gezwungen, das nur von ihr verteidigte Betreuungsgeld mit dem Begriff der »Wahlfreiheit« zu rechtfertigen, was wiederum den Ausbau einstmals noch verteufelter KiTas bereits voraussetzt.

In der Umwelt- und Energiepolitik akzeptieren alle Parteien den Atomausstieg, die Energiewende sowie die Abschaffung von Verbrennungsmotoren, wo sie sich im Wesentlichen hinsichtlich der Geschwindigkeit des Wandels unterscheiden. In der Bildungspolitik ist Rot-Grün unter dem Eindruck erfolgreicher Wutbürger-Proteste in Hamburg zur Verteidigung ihrer Bildungsprivilegien von einer Reform des dreigliedrigen Schulsystems abgerückt. Die Union hingegen rückt ihrerseits in NRW von »G8« ab und betreibt in ländlichen Gebieten als Mehrheitspartei selbst den Ausbau von Gesamtschulen, weil sich eine wohnortnahe Beschulung einschließlich der Oberstufe dort anders kaum gewährleisten lässt.

Untermauert wird dies alles bei der Finanzpolitik. Bis auf DIE LINKE stehen alle Parteien hinter der Schuldenbremse. Unterscheiden tun sie sich im Wesentlichen darin, wie viel Priorität sie der »schwarzen Null« zuweisen. Aber auch die Union will mehr öffentlich investieren, während die SPD auf die Vermögenssteuer verzichtet hat. Das Steuerkonzept der Sozialdemokratie wurde sogar von FDP-Chef Lindner im ZEIT-Interview als »moderat« gelobt. Vom den Parteien der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis gegeben, basiert die konfliktarme Finanzpolitik zumindest teilweise auf der Finanz- und der Eurokrise. Deutschland realisierte der Bundesbank zufolge seit 2008 240 Milliarden Euro Zinsersparnis, d.h. umgerechnet über 20 Milliarden Euro pro Jahr, weil es als »sicherer Hafen« Kredite auf den Anleihemärkten zu Niedrigstzinsen hinterhergeworfen bekam und weil die EZB mit ihrer Politik das Zinsniveau zusätzlich drückte.

Aus diesen Grundlagen erwachsend, erleben wir 2017 eine Konstellation, in der sogar die CSU ihren mit viel Getöse angekündigten »Bayernplan« zur Bundestagswahl bis auf die ohnehin aussichtslose »Obergrenze« so ökologie- und basisdemokratie-affin eingefärbt hat, dass Albert Schäffer in der »FAZ« Seehofers Partei immer wieder genüsslich ihre uneingestandene Annäherung an die Grünen vorhalten kann. Die zarten Kritikversuche des SPD-Kandidaten Martin Schulz gegen Merkel und die CDU wirken dagegen hilflos und seltsam aus der Zeit gefallen, gleichgültig, wie sachlich zutreffend sie eigentlich sein mögen. So hat sich das politische Spiel in Deutschland derart zu einem Gleichgewicht der Angriffshemmungen eingependelt, dass selbst eine Bundestagswahl es nicht irritieren kann.

Tausendmal rebelliert, und tausendmal ist nichts passiert

»Hey! Think the time is right for a palace revolution
'Cause where I live the game to play is compromise solution«

Der Liedtext der Rolling Stones trifft ziemlich gut auf Deutschland zu, wo anscheinend nicht trotz, sondern wegen aller Neugründungen, Aufschwünge und Abstürze vom Bewegungen und Parteien die politische Entwicklung um den Angelpunkt Angela Merkel kreist. Andere Länder hingegen erleben massive Umbrüche durch Erfolge von Anti-Establishment-Parteien von links (Sanders, Corbyn, SYRIZA, Podemos, France Insoumise), rechts (Front National, Trump, FPÖ, Dänische Volkspartei) oder »Mitte« (Macron). In Deutschland hingegen obsiegt das Bedürfnis nach dem politischen Ruhepol, das Merkel geschickt bedient. In der politischen Kultur Deutschlands existierte schon lange eine starke Strömung, die man auf den Wahlslogan »Keine Experimente!« zuspitzen kann – mit diesem Slogan gewann bekanntlich die Adenauer-Union bei der Bundestagswahl 1957 die erste und bis heute einzige absolute Mehrheit einer Parteienfamilie in der Nachkriegsgeschichte.

Spätestens ab 1968 konkurrierte diese Strömung mit gesellschaftlichen Aufbruchsstimmungen, die bei der Bevölkerung Veränderungsbereitschaft und mitunter politischen Handlungsantrieb aktivieren. Es sind aber weder ein Programm noch ein Personal noch ein organisatorischer Träger in Sicht, die einen ausreichend starken Wandel der Erwartungshaltung bei den Leuten auslösen könnten.

Gewiss waren die Jahre seit Beginn von Merkels Kanzlerschaft von einer Vielzahl von Bewegungen und politischen Innovationen geprägt. Ob die Proteste gegen Stuttgart 21, jene gegen Atomkraft, antirassistische Bewegungen, der sogenannte Bildungsstreik, Occupy auf der fortschrittlichen Seite, aber auch PEGIDA, diverse Wutbürger-Proteste, die »Demo für alle« und die sogenannte Identitäre Bewegung auf der rechten und rechtsaußen stehenden Seite verleihen der Rede von der »Bewegungsrepublik Deutschland« eine gewisse Plausibilität.

Aber viele Bewegungen der vergangenen Jahre verschwanden ähnlich unauffällig und schnell wieder in der Versenkung, wie sie aus dieser auf die Tagesordnung aufgetaucht waren. Gerade wurden sie noch von vielen linken Bewegungsliebhabern angehimmelt, erlebten sie abrupt ihre Ablösung durch die nächste Kandidatin, an der radikale Hoffnungen enttäuschen sollten.

Die türkisch-amerikanische Techniksoziologin Zeynep Tüfekçi argumentiert, dass Bewegungen heute dank der wechselseitigen Befeuerung von Massenmedien und sozialen Medien deutlich schneller die überregionale Aufmerksamkeitsschwelle überschreiten als früher. So erwecken sie schnell den Eindruck einer deutlich größeren gesellschaftlichen Wirkungsmacht, als sie diese tatsächlich im Hinblick auf ihre Ressourcen, ihre gesellschaftliche Verankerung und die Belastbarkeit ihrer organisatorischen Strukturen aufweisen.

Was die Bewegungen an schnellem Bekanntheitsgrad gewinnen, fehlt ihnen an organisatorischer Konsolidierung, weil das Rückgrat ihrer organisationspolitischen Praxis gerade nicht aus Vertrauensbildung zwischen den Mitgliedern, angesammelten Erfolgs- und Misserfolgserfahren, geteilten Deutungsmustern und eingeschliffenen Arbeitsteilungen besteht – alles Eigenschaften, die erst im Zuge einer längeren Aufbauphase von Bewegungen entstünden, um die man sich in der heutigen Aufmerksamkeitsökonomie herumdrücken kann.

»Merkelismus« als tonangebender Politikmodus unserer Gegenwart?

Und so kommt es, dass die in Deutschland unterm Strich eher die »Sehnsucht nach Synthese« (Ralf Dahrendorf) als Strömung der politischen Kultur den Alltagsverstand der Regierten prägt. Dies zeigt sich zum einen an der Konfliktscheue: Bekanntlich kann sich keine Partei in Deutschland leisten, in der Öffentlichkeit ein Bild der Zerstrittenheit abzugeben; nur bei Strafe des Rückhaltverlusts in den Umfragen riskiert man offene Auseinandersetzung. Zum anderen macht sich immer wieder eine Sehnsucht nach Überparteilichkeit bemerkbar, die man von den interessenneutral erscheinenden politischen Institutionen des Bundesverfassungsgerichts, des Bundespräsidenten und der Bundesbank beantwortet sieht – aber paradoxerweise auch von einer Bundeskanzlerin und Parteivorsitzenden, die über die politische Richtungskompetenz verfügt. Aus der Veränderungsskepsis wächst schließlich ein Bedürfnis nach permanenter Gegenwart, wie das Rheingold-Institut schon anhand der Bundestagswahl 2013 registriert hatte. Merkel ist im doppelten Sinne dafür Projektionsfläche, weil sie die reibungslose Fortsetzung des Bestehenden nach innen und die Abwehr allzu unangenehmer weltpolitischer Zumutungen von außen als »personifizierter Rettungsschirm« (Manfred Güllner) zu garantieren scheint – »Sie kennen mich« ist die um persönliche Sympathiepunkte aktualisierte Variante von »Keine Experimente«.

Dem können die Parteien des fortschrittlichen Spektrums auch deswegen so wenig entgegensetzen, weil sie sich selbst »merkelisiert« haben. Um nach außen hin kein allzu streitlustiges Bild abzugeben, wurden und werden interne Meinungsverschiedenheiten wegmoderiert, in Formelkompromisse eingewickelt oder gar nicht erst auf die Tagesordnung gelassen.

Die SPD war gerade dankbar für den messianisch begrüßten Martin Schulz, weil ihm zu folgen der Partei eine ehrliche Aufarbeitung der Agenda 2010, der Schuldenbremse und der Eurokrise ersparte, an deren Ende eine klare Richtungsentscheidung für oder gegen das bisherige politische Paradigma stehen müsste.

Die Bündnisgrünen müssten sich entscheiden, ob sie eine fortschrittlich-gerechtigkeitspolitische Reformpolitik wollen oder ob sie dem Kretschmann-Kurs folgen, der ihrer bürgerlichen Klientel nahezu jegliche Zumutungen von Erbschafts-, Vermögens- und höheren Einkommenssteuern über Schulreformen bis hin zum Ehegattensplitting erspart.

DIE LINKE schließlich müsste wie bereits angesprochen nicht nur hehre Ziele proklamieren, sondern sie mit einer politischen Methode unterfüttern und dürfte sich nicht mehr um Knackpunkte wie den Umbau von EU und Euro, eine linke Einwanderungspolitik und die Frage einer gegenwartstauglichen Außen- und Sicherheitspolitik herumdrücken.

Die fortschrittlichen Kräfte konnten in der deutschen Nachkriegsgeschichte nur dann parlamentarische Mehrheiten erringen, wenn sie entweder von einer gesellschaftlichen Aufbruchs- bzw. Wechselstimmung getragen wurden wie 1969, 1972 oder 1998 oder sich wie gegenüber Strauß 1980 und Stoiber 2002 noch als plausibel »kleineres Übel« anbieten konnten. Letzteres erwies sich schnell genug als Trugschluss, denn auf Helmut Schmidts zweite Wiederwahl folgte alsbald die schwarz-gelbe »Wende«, auf Gerhard Schröders Wiederwahl 2002 die Agenda 2010.

Es führt also kein Weg darum herum, sich bis in alle Poren der Zivilgesellschaft hinein um belastbare Mehrheiten zu bemühen. Gegen die Anspruchsdeflation in der Ära Merkel hilft nur ein radikaler, deutlicher und mit einer glaubwürdigen Zukunftsperspektive verbundener Bruch mit der Methode Merkel. Dafür lohnt es sich zu streiten!

Alban Werner ist 1982 in Aachen geboren und war von 1999 bis 2004 Mitglied bei der SPD. Seit 2005 ist er bei DIE LINKE auf verschiedenen Ebenen aktiv. Der Politikwissenschaftler schreibt u. a. in »Sozialismus« und »Das Argument«.