nd-aktuell.de / 17.08.2017 / Kultur / Seite 15

Christian Sigrist (Münster, 1977)

Unbekannte Bekannte

Walter Kaufmann

Als ich am Abend nach der Gerichtsverhandlung gegen Professor Sigrist vor dessen Einfamilienhaus im Vorort von Münster anlangte, schlug laut ein Hund an, der sich erst beruhigte, als die Tür geöffnet und ich hinein gebeten wurde. Da streckte sich der Hund auf der Matte aus und blieb still.

Gut zwei Stunden später schlug er ein zweites Mal an. Durchs Wohnzimmerfenster konnten Professor Sigrist und ich im Vorgarten eine massige Gestalt erkennen, wir hörten die Hausglocke und wieder bellte grimmig der Hund. Wir ahnten beide, dies kündigte die Ankunft von Max Watts an, meinem Reporterkollegen vom damaligen Prozessgeschehen - arg verspätet, aber immerhin. «Ich werde nicht wiederholen können, was ich Ihnen erzählt habe», sagte Professor Sigrist zu mir - er hatte ausführlich von seinem Werdegang gesprochen, und ein zweites Mal war ihm das nicht zuzumuten. Max Watts, inzwischen ins Wohnzimmer vorgelassen, erklärte seine Verspätung - er sei wegen Terrorismusverdacht aufgehalten und polizeilich verhört worden.

Professor Sigrist verschlug es die Sprache, mir damals auch, obwohl ich ein Quäntchen Verständnis für die Polizei hegte. Max Watts, bärtig und mit wirrem Haar, dazu in zerschlissener Kutte, entsprach tatsächlich der gängigen Vorstellung eines Terroristen. Professor Sigrist, überanstrengt wie er inzwischen war, hielt uns nicht auf, als wir uns bald verabschiedeten. «Sie werden Ihrem Kollegen mitteilen, was sie von mir erfahren haben», sagte er, ich versprach es ihm.

Im Auto, auf dem Weg zur Innenstadt von Münster, fragte Max Watts: «Wie kommt der Professor dir vor?» «Hellwach und links», sagte ich, «ein kritischer Geist.» «Sehe ich auch so», meinte Watts, «und weiter.» - «Ein Akademiker, dem die Herrschaft von Menschen über Menschen zuwider ist und der sein Wissen in den Dienst seiner Überzeugungen stellt.» «Klingt heftig», sagte Watts, «hast du’s nicht ‚ne Nummer kleiner?» - «Weißt du», antwortete ich ihm, «es war für uns beide ein langer Tag, ich jedenfalls bin ziemlich geschafft. Alles weitere erzähle ich dir morgen.»

Max Watts verlangsamte die Fahrt. «Ich an deiner Stelle würde hier und jetzt alles teilen.» Das sah ich ein. «Sigrist ist einer, der sich in der Welt umgetan und daraus Schlüsse gezogen hat. In Afghanistan, zum Beispiel. Allein schon wegen seiner Ansichten über regulierte Anarchie ist er in diesen Scheißprozess verwickelt worden, es war folgerichtig.»

Max Watts nickte verständnisvoll. «Schade, dass du aufgehalten wurdest», sagte ich ihm. «Du hättest hören sollen, wie Sigrist über Afghanistan sprach - ein unbesiegbares Land, an dem sich sämtliche Eindringlinge die Zähne ausgebissen haben und weiterhin werden.» Das zu hören, schien Max Watts zufrieden zu stellen. Er fuhr wieder zügiger, und während wir durch die Nacht rollten, sah ich Professor Sigrist vor mir, weit jünger wirkend als seine 42 Jahre, ein unerschrockener Hochschullehrer - und keineswegs wunderte es mich, dass sich junge Leute aus Afrika, Asien und Lateinamerika in seine Seminare drängen. Wenn nicht in seine, dann in welche?«