nd-aktuell.de / 22.08.2017 / Kultur / Seite 15

Der Wesenskern

Ljudmila Ulitzkaja erzählt von vier Generationen, erkundet ein Jahrhundert - und sich selbst

Irmtraud Gutschke

Jakobsleiter»: Laut Altem Testament sieht Jakob im Traum die Engel Gottes auf- und niedersteigen. Geheime Rechtfertigung für die List, dass er seinem Bruder Esau für ein Linsengericht das Erstgeburtsrecht abschwatzte? Im Johannesevangelium wird das Bild auf Christus übertragen, der die Menschen mit Gott verbindet. Ljudmila Ulitzkaja hat sich eine eigene Jakobsleiter gebaut, indem sie ihren Roman mit dem Tagebuch von Jakow Ossetzki 1911 beginnen und mit der Geburt eines neuen Jakow Ossetzki hundert Jahre später enden lässt. Wobei sie die Ereignisse nicht chronologisch ordnet. Die Handlung beschreibt eher eine Zickzacklinie, rückt zeitlich mal vor, mal zurück. Im Nachhinein mag man sie sich auch als Kreis denken, in den man an jedem Punkt hineintreten könnte, um letztlich eine Ganzheit zu erfahren.

Aber das ergibt sich erst, wenn man die über 600 Seiten in sich hat. Zunächst ist man von Einzelheiten umgeben. Wer frühere Werke von Ljudmila Ulitzkaja kennt, wird das erwarten. Diese Autorin hatte schon immer einen besonderen Sinn für die Details menschlicher Schicksale. Andere Schriftsteller erzählen zweckgerichteter, verlangen von den literarischen Gestalten, dass sie ihren künstlerischen Zielen dienstbar sind.

Ljudmila Ulitzkajas Romane und Erzählungen leben vom tiefen Interesse für die Vielfältigkeit persönlicher Lebenswege. Weil die Gestalten sich sozusagen nicht gängeln lassen und die Autorin das auch nicht versucht, kann auf den Leser ein erhebendes Gefühl überströmen: Selbstständigkeit, Freiheit. Alles ist möglich. Nichts Menschliches ist dieser Autorin fremd. Man fühlt sich leicht bei der Lektüre, auch wenn von Schwerem die Rede ist. Womöglich hat Ulitzkaja beim Schreiben solche Leichtigkeit auch für sich selbst gesucht, wollte sie, so eine emanzipierte Frau sie auch ist, ebenso etwas in sich versöhnen.

«Was für komplizierte, was für gestörte Beziehungen», heißt es auf Seite 302. Das klang schon in früheren Werken Ulitzkajas durch, und man soll es wohl nach ihrem Willen weniger als «gestört» denn als normal empfinden, dass Menschen es mitunter schwer haben mit der Monogamie. Da bringt es nichts, einander mit Eifersüchteleien zu quälen. Mit dieser Problematik haben es unter unterschiedlichen Bedingungen auch die Frauen und Männer in diesem Roman zu tun. Die Liebe siegt über das Prinzipielle. Über Verletzungen hinweg die Mitmenschlichkeit zu bewahren, ist höchstes Gebot.

Von 1911 bis 2011 also: Beginnend im zaristischen Russland - Jakow Ossetzky und seine spätere Frau Maria Kerns leben zunächst in Kiew, das damals auf selbstverständliche Weise russisch war - über die Zeit des Ersten Weltkriegs, Oktoberrevolution und Bürgerkrieg, die Jahre Stalinscher Repression, den Zweiten Weltkrieg (den Jakow Ossetzky in einem Lager überlebt) bis zum intellektuellen Aufbegehren gegen restriktive sowjetischen Kulturpolitik und dem Ringen um schöpferische Selbstverwirklichung heute spannt sich der Rahmen. Wobei, wie gesagt, das Politische in den Hintergrund tritt gegenüber dem Individuell-Persönlichen, die eigenen Lebensumstände zu formen, zumindest mit ihnen zurechtzukommen.

Der Roman beginnt damit, dass Nora Ossetzky, Jakows Enkelin, nach dem Tod ihrer Großmutter Maria (Marussja) 1975 Briefe und Fotos von Jakow und Maria findet, ihnen aber zunächst kaum Beachtung schenkt. Er endet 2011, als sie, nachdem ihr eigener Enkel Jakow geboren wurde, in ihrer Vergangenheit zu graben beginnt und aus der KGB-Akte ihres Großvaters auch Unbekanntes über ihren Vater erfährt. In ihrem vorigen auf Deutsch erschienenen Buch, dem Essayband «Die Kehrseite des Himmels», 2015 ebenfalls von ihrer kongenialen Übersetzerin Ganna-Maria Braungardt ins Deutsche gebracht und unlängst als Taschenbuch bei dtv erschienen, gibt es neben anderen autobiografisch fundierten Texten auch einen, der sich «Alte Fotos» nennt. Wiederlesen lohnt sich zum Zwecke des Vergleichs mit vorliegendem Roman.

Tatsächlich hat Ljudmila Ulitzkaja rund 500 Briefe ihrer Großeltern Maria und Jakow aus der Zeit zwischen 1911 und 1954 gefunden und jahrelang nicht gelesen. In einem Interview mit Christina Links spricht sie von einem Gefühl des Unheimlichen - «so als fielen plötzlich Skelette aus dem Schrank», verbindet das aber mit dem generellen Problem der schweigenden Elterngeneration. So hat sie bedauert, wie wenig sie von ihrem Großvater Jakow Ulitzki wusste, von dem sich ihre Großmutter 1936 scheiden ließ.

Es war eine regelrechte Forschungsarbeit, doch die Fakten blieben unvollständig. «Also musste ich mir vieles selbst ausdenken.» Aus den Ulitzkis wurden die Ossetzkis. Nora heißt nicht Ljudmila und hat auch nicht wie jene als Genetikerin gearbeitet. Ihre Freundinnen und Freunde haben andere Namen. Ljudmila Ulitzkaja war zwei Jahre als literarische Beraterin am Jüdischen Kammermusiktheater tätig, nachdem sie wegen Verbreitung verbotener Literatur aus der Akademie der Wissenschaften ausgeschlossen worden war. Nora, auf lockere Weise mit ihrem Schulkameraden Vitja verheiratet, ehe er als Mathematikgenie nach New York geht und eine neue Partnerin findet, kommt über Jahrzehnte in Abständen mit dem georgischen Regisseur Tengis Kusiani zusammen, der seine Ehe ebenso wie seine Unabhängigkeit schützt. Für seine innovativen Inszenierungen sucht er sie immer wieder als Ausstatterin. Wie sie sich gegenseitig beflügeln in ihren künstlerischen Ideen, liegt auch an Noras Befähigung zum bildhaften Denken. Wie ihr Bilder aufleuchten, die immer komplexer werden, gibt dem Roman, der auch ein Jahrhundert Kunstgeschichte spiegelt, zusätzlichen Reiz.

Eine Familienchronik, die in Russland wurzelt, das jüdischen Menschen viel zu verdanken hat. Die Reflexion des Jüdischen ist dem Roman immanent und braucht keine extra Betonung. USA, Israel - dass in Russland Gebürtige auch anderswo heimisch werden, auf Zeit oder auf Dauer, ist keiner Aufregung wert. Fliegt Nora eben zu ihrem Sohn über den großen Teich, und als er dort zu stranden droht, holt sie ihn zurück. Weltbürgertum als Haltung - da denkt man wohl an ein seit der Antike gepriesenes Ideal, aber eben auch an die antisemitische sowjetische Kampagne gegen «heimatlose Kosmopoliten» zwischen 1948 und 1953, zu deren Opfern auch Jakow Ulitzki gehörte, weil er mit dem Jüdischen Antifaschistischen Komitee (JAFK) verbunden war.

Die zwiespältige Rolle des JAFK im Kalten Krieg auch im Zusammenhang mit den sowjetischen Hoffnungen auf Israel, das sich dann doch eher an den Interessen der USA orientierte - von solchen politischen Zusammenhängen sieht Ulitzkaja ab. Nicht um die Mühlsteine momentaner Politik geht es ihr, sondern um diejenigen, die dazwischen geraten sind. Irgendwelche staatlichen Interessen oder auch gesamtgesellschaftliche Argumente sind ihr den persönlichen Bindungen und dem Wunsch nach Schaffensfreiheit nachgeordnet. Deshalb galt sie zu sowjetischen Zeiten auch als Dissidentin und heute als Gegnerin Putins, wobei sie sich, so in einem NZZ-Interview, nicht etwa als «politische Aktivistin» versteht. «Es gibt keine Staatsmacht, die ich lieben würde.»

«Ich bin eine russische Schriftstellerin jüdischer Herkunft und christlicher Prägung», sagt Ljudmila Ulitzkaja von sich. Die letzte große russisch-jüdische Intellektuelle - solch ein Etikett wird ihr hierzulande gerne angeheftet, und sie kann damit leben, weil es eine ehrenvolle Bezeichnung ist. Auch dieser Roman spiegelt ja eine Familiengeschichte aus einer bestimmten sozialen Schicht: der «Intelligenzija», die seit dem 19. Jahrhundert in Russland über ein besonders hohes Prestige verfügte, eben weil sie sich stellvertretend für die vielen Menschen ohne Stimme als «Gewissen der Nation» verstand. Die «Erziehung eines schönen, freien, neuen Menschen» war für Noras Großmutter Marussja das große Ziel gewesen; zugleich genoss sie «das gewaltige Abenteuer Leben». So wie Nora ihre Arbeit preist, «die ein Fest war». Aber das ist kein allgemeiner Anspruch mehr. Eine gesellschaftliche Utopie hat sich aufs Private zurückgezogen.

Wer die Hauptfigur ihres Buches sein könnte, überlegt Nora zusammen mit der Autorin. «Jakow? Marussja? Genrich? Ich? Jurik? … Nein kein Individuum, sondern eine Art chemischer Substanz ... eher ein Wesenskern, weder dem Sein noch dem Nichtsein zuzuordnen. Etwas, das durch die Generationen wandert …, das die Illusion des Individuums überhaupt erst schafft …»

Auch wenn es noch viel weiter zurückreicht, hier geht dieses Erbe von Jakow aus. Egal, was die Gestalten dieses Buches tun, es ist in ihnen ein schöpferischer Funke, der immer wieder zum Feuer wird. Das lässt sie aus ihrem Inneren heraus leuchten. Wenn Jakow an Maria überschwängliche Liebesbekundungen schreibt und sich in den vielen Jahren seiner Gefangenschaft mit allen möglichen naturwissenschaftlichen Wissensgebieten herumschlägt, sogar unter schrecklichsten Bedingungen plant, eine Geschichte der Musik zu verfassen, wem wird es dienlich sein? Die Frage stellt sich nicht. Anders kann er nicht leben.

Das ist der Wesenskern, dem sich auch die Autorin verpflichtet fühlt: das Schöpferische. So folgen auch die anderen Gestalten in diesem Buch der «Jakobsleiter», die in ihnen selber ist, «und so entstand eine endlose Geschichte, deren Sinn schwer zu fassen war, obwohl er wie ein feiner Faden offenbar alles durchzog».

Ljudmila Ulitzkaja. Jakobsleiter. Roman. C. Hanser Verlag. 640 S., geb., 26 €. Die Kehrseite des Himmels. dtv, 223 S., br., 10,90 €. Beide aus dem Russischen und mit Anmerkungen von Ganna-Maria Braungardt.