nd-aktuell.de / 30.08.2017 / Kommentare

»Niedrige Zinsen sind gut für den Traum vom Eigenheim«

Wirklich? Aufklärung über die Mythen der Wohnungsdebatte. Teil 10 der nd-Serie »Muss die Miete immer teurer werden?«

Andrej Holm

Der drastische Mietanstieg in vielen Städten sowie Konflikte um Verdrängung haben die Wohnungsfrage zurück in die politischen Debatten und auf die Straße gebracht. Wie in kaum einem anderen Bereich unseres Alltags prallen hier existenzielle soziale Bedürfnisse und ökonomische Interessen einer marktförmig organisierten Wirtschaft aufeinander. Eine soziale Wohnungsversorgung – das zeigen die letzten 150 Jahre der kapitalistischen Urbanisierung – muss fast immer gegen private Gewinninteressen durchgesetzt werden. Wir stellen in dieser Serie in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung gängige Behauptungen in den gegenwärtigen wohnungspolitischen Auseinandersetzungen auf den Prüfstand.

»Angesichts niedriger Zinsen ist die Finanzierung sogar oftmals günstiger, als weiter zur Miete zu wohnen.« Christian Streim, Landesvorsitzender von Haus & Grund Hessen

Wie wird argumentiert?

Wer kennt nicht das Mantra der Immobilien- und Bauwirtschaft: Investment in »Betongold« ist die sicherste und beste Kapitalanlage. Gerade wenn die Finanzierung günstig ist, weil die Zinsen einen Tiefststand erreicht haben, sollte die Chance zum Eigentumserwerb genutzt werden. Jürgen Schick, Vizepräsident des Immobilienverbandes IVD, bringt es wie folgt auf den Punkt: »Immobilien sind so erschwinglich wie noch nie.«

Viele andere sogenannte Experten aus der Finanz- und Immobilienbranche argumentieren ähnlich und wollen den Erwerb von Wohneigentum sowohl denjenigen, die nach einer lukrativen Anlageform für ihr Erspartes oder Ererbtes suchen, als auch MieterInnen zur Eigennutzung schmackhaft machen. Sie behaupten, die derzeitigen Finanzierungskosten würden niedriger ausfallen als die Mietpreise, die für eine vergleichbare Wohnung zu zahlen wären.

Was ist dran?

Die derzeit historisch niedrigen Zinssätze haben die Finanzierungskosten für Wohneigentum in Deutschland tatsächlich deutlich gesenkt. Ein Blick auf die Entwicklung der Bauzinsen zeigt, dass diese sich zwischen 2008 und 2017 von 4,8 auf 1,4 Prozent deutlich verringert haben. Die Finanzierung eines Kredites in der Höhe von 100.000 Euro würde (bei einer angenommenen anfänglichen Tilgung von 2,5 Prozent) aktuell eine monatliche Belastung von 325 Euro (statt wie vor zehn Jahren von 608 Euro) betragen.

Klingt erst einmal nicht schlecht, doch im gleichem Zeitraum sind auch die Durchschnittspreise für Eigentumswohnungen deutlich gestiegen: in Berlin von 1.359 Euro (2008) auf 3.102 Euro pro Quadratmeter (2017). Der Kredit lässt sich zwar deutlich günstiger finanzieren, doch für dieselbe Kredithöhe gibt es auch nur noch deutlich weniger Quadratmeter Wohnfläche. Während im Jahr 2008 in Berlin noch fast 74 Quadratmeter für 100.000 Euro erworben werden konnten, reicht dies Summe aktuell nur noch für 32 Quadratmeter.

Solche Entwicklungen vollziehen sich nicht nur in Städten mit vergleichsweise günstigen Ausgangswerten. Auch in München – der teuersten Stadt in Deutschland – sind die durchschnittlichen Preise für Eigentumswohnungen zwischen 2012 und 2016 von 4.600 auf über 7.000 Euro pro Quadratmeter gestiegen. Für 100.000 Euro könnten hier nur noch 14 Quadratmeter Wohnfläche erworben werden.

Auch bezogen auf die monatlichen Kosten für die Refinanzierung der Kredite zeigt sich, dass Eigentumserwerb in den letzten zehn Jahren nicht günstiger geworden ist. Wieder ein Berliner Beispiel: Kostete ein Quadratmeter Eigentumswohnung im Jahr 2008 (bei hohen Zinsen und niedrigen Preisen) pro Monat noch durchschnittlich 8,26 Euro, so sind es aktuell (bei niedrigen Zinsen und hohen Preisen) bereits über 10 Euro. Damit liegen die Refinanzierungskosten einer Eigentumswohnung auch 2017 immer noch deutlich über den durchschnittlichen Nettokaltmieten (von 6,39 Euro/qm) im Bestand, das heißt Wohnungen, die älter als 15 Jahre sind.

Auffällig ist, dass der durchschnittliche Abstand zwischen Bestandsmieten und den Finanzierungskosten von Wohneigentum seit etwa zehn Jahren relativ stabil zwischen 3,50 und 4,00 Euro pro Quadratmeter liegt. Damit entspricht die monatliche finanzielle Belastung beim Eigentumserwerb im Durchschnitt 166 Prozent der vergleichbaren Mietkosten, wenn man in einem Altbau wohnt. Eigentum bleibt also trotz der günstigen Zinsen eine Option, die ausschließlich den Besserverdienenden offensteht.

Anders gestaltet sich der Vergleich zwischen den Kosten bei Neuvermietungen und den Kosten des Eigentumserwerbs. Hier hat sich die Lücke zwischen 2009 und 2017 von 2,53 Euro pro Quadratmeter auf 0,13 Euro pro Quadratmeter deutlich reduziert. Für eine durchschnittliche Eigentumswohnung sind demnach ähnlich hohe monatliche Belastungen einzukalkulieren wie für den Erstbezug einer Mietwohnung.

Wenn es also eine neue Attraktivität von Eigentumswohnungen gibt, dann geht die weniger von den geringen Zinsen als von den steigenden Mieten aus. Insbesondere für Wohnungssuchende mit höheren Einkommen, den Haushalten, die 10 Euro pro Quadratmeter (nettokalt) und mehr für die Miete ausgeben können, ist die Eigentumsbildung eine rationale Alternative. Für die allermeisten Haushalte bedeutet aber diese Annäherung der Mieten an die Finanzierungskosten von Wohneigentum, dass sie von den Marktangeboten nahezu völlig ausgeschlossen und noch stärker auf den schrumpfenden Bestand von mietpreis- und belegungsgebundenen Wohnungen angewiesen sind.

Fazit

Die VerkäuferInnen von Eigentumswohnungen schöpfen den Zinseffekt durch steigende Kaufpreise selbst ab. Im Verhältnis zum eingesetzten Kapital ist der Kauf einer Eigentumswohnung heute sogar noch teurer als zu Zeiten hoher Zinsen. Eigentumserwerb wird erst dann ökonomisch attraktiv, wenn die monatlichen Mietkosten über den monatlichen Belastungen des Eigentumserwerbs liegen. Es ist nicht die wachsende Zahl von Eigentumswohnungen, die die Mieten steigen lassen, sondern es sind die hohen Mietpreise, die viele (ökonomisch privilegierte) Wohnungssuchende zum Erwerb von Eigentum treiben.

Andrej Holm ist Sozialwissenschaftler und zählt zu den prominetesten Experten eines kritischen Blicks auf Stadterneuerung, Gentrifizierung und Wohnungspolitik. Von ihm ist unter anderem erschienen: »Mietenwahnsinn. Warum Wohnen immer teurer wird und wer davon profitiert« (bei Knaur, München). Die Serie ist zuerst als Heft Nummer 15 in der Reihe »luxemburg argumente«[1] der Rosa-Luxemburg-Stiftung erschienen. Sie kann unter rosalux.de kostenlos heruntergeladen werden.

Links:

  1. https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Argumente/lux_argu_15_Wohnen_dt_06-17.pdf