Kein Platz für Amazonen

Von Vorurteilen, falschen Hoffnungen und der Bürde des Gewissens

  • Lesedauer: 3 Min.

Sie war die jüngste Tochter eines Chemikers, der mit seiner Frau der jüdischen Gemeinde von Breslau entstammte. Neben seiner Arbeit experimentierte er an künstlichen Düngemitteln und förderte schon früh die naturwissenschaftlichen Interessen seiner Jüngsten. »Wenn alle Väter so wären wie du, dann würde es gehen«, sagte sie einmal zu ihm, verärgert darüber, dass in anderen Familien den Mädchen der soziale Aufstieg verwehrt wurde.

Zunächst besuchte sie die höhere Töchterschule, wo man bald ihre Begabung erkannte und wo sie auf Anweisung der Direktorin auch außerhalb des normalen Stundenplans Chemieunterricht erhielt. Nach Abschluss der Schule arbeitete sie selbst als Lehrerin, was ihr zwar Spaß machte, aber auf Dauer nicht genügte. Extern nahm sie daher an der Prüfung zur mittleren Reife teil, die sie an einem Realgymnasium mit Bravour bestand.

Daraufhin wurde sie als Gasthörerin an der Universität zugelassen. Dennoch musste sie jeden Dozenten vorab fragen, ob sie an dessen Veranstaltungen teilnehmen dürfe. Manche erteilten die Erlaubnis, andere lehnten es ab, »geistige Amazonen« im Hörsaal nur zu dulden. Anfangs belegte sie verschiedene naturwissenschaftliche Vorlesungen, dann beschäftigte sie sich fast ausschließlich mit Chemie. Ihr Lieblingsplatz war das Labor, wo sie von den dort tätigen Männern nicht selten herablassend behandelt wurde. Unterstützung fand sie dagegen beim Chef des Instituts, unter dessen Leitung sie ihre Dissertation verfasste. Mit 30 Jahren erhielt sie als erste Frau in Deutschland die Doktorwürde im Fach Chemie.

Bereits zu Beginn des Studiums hatte sie sich während der Tanzstunde in einen jungen Mann verliebt, dessen Heiratsantrag aber abgelehnt. Einige Jahre später traf sie ihn wieder. Er lehrte inzwischen als Chemieprofessor in Karlsruhe und warb erneut um ihre Hand. Diesmal willigte sie ein. »In Gedanken stelle ich mich auf eine Chemikerehe ein, in der zwei Schreibtische gleichberechtigt nebeneinander im Arbeitszimmer stehen«, sagte er zu ihr. Sie hegte deshalb die Hoffnung, auch als Ehefrau und Mutter in der Forschung tätig sein zu können. Tatsächlich durfte sie im Labor der Hochschule arbeiten, mitunter an der Seite ihres Mannes, dem jedoch allein der Ruhm für erbrachte Leistungen zufiel.

Dann wurde sie schwanger. »Ich wollte lieber noch zehn Doktorarbeiten machen, statt mich so quälen zu müssen«, schrieb sie in einem Brief an ihren früheren Professor. Nach der Geburt ihres Sohnes ging es mit ihrer akademischen Karriere bergab. Im Labor war sie als Mutter unerwünscht, und auch von ihrem Mann wurde sie zunehmend in die Rolle der fürsorglichen Gattin gedrängt. Die Gäste des Hauses empfing sie nun mit Küchenschürze. »Was von mir übrig ist«, klagte sie, »erfüllt mich selbst mit tiefster Unzufriedenheit.« Um ihr Wissen überhaupt noch anwenden zu können, referierte sie im Rahmen eines Volksbildungsvereins zum Thema »Chemie im Haushalt«.

Als ihr Mann zum Direktor eines neuen Instituts in Berlin ernannt wurde, hoffte sie noch einmal auf eine selbstständige wissenschaftliche Tätigkeit. Was man ihr stattdessen anbot, waren einfache Übersetzungs- und Korrekturarbeiten. Schweren Herzens nahm sie Abschied von der Forschung. Wenig später brach der Erste Weltkrieg aus, in dem sich ihr Mann an der Entwicklung neuer tödlicher Waffen beteiligte. Als er ihr davon erzählte, nannte sie seine Arbeit eine »Perversion der Wissenschaft«. Doch ihr Einspruch war vergebens. Skrupellos leitete ihr Mann den Einsatz der neuen Waffe an der Westfront und ließ sich dafür zu Hause wie ein Held feiern. Darüber kam es zwischen beiden zu einer heftigen Auseinandersetzung. Am Morgen danach nahm sie die Dienstpistole ihres Mannes an sich, ging in den Garten und schoss sich - vermutlich aus Gewissensnot - in die Brust. Sie starb im Alter von 44 Jahren. Wer war's?

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