nd-aktuell.de / 11.09.2017 / Kultur / Seite 16

»Gnadentod« ohne Gnade

Barbara Zoeke zeigt Opfer und Täter dessen, was verharmlosend als »Euthanasie« bezeichnet wurde

Friedemann Kluge

Im Nazi-Jargon galten sie als »nutzlose Esser«, als »Minderwertige«, als »Ballastexistenzen«, deren Vernichtung man zynisch verharmlosend das Etikett »Euthanasie« verpasste. Mit den titelgebenden »Spezialisten« in ihrem Roman meint Barbara Zoeke jene Mediziner (von Ärzten zu sprechen, verbietet sich hier von selbst), die sich unter völliger Missachtung ihres hippokratischen Eides dazu herbeiließen, Menschen zu ermorden.

Zoekes Roman bewegt sich auf durchaus authentischer Grundlage: Ihre Personen haben so gelebt, haben so vernichtet, sind so ermordet worden. Die Autorin wäre aber keine Psychologin, wenn sie sich für ihren Stoff nicht einen ganz besonderen Kunstgriff ausgedacht hätte. Das Perfide an der Sache ist ja, dass Opfer und Täter gewissermaßen in einem Boot sitzen: Ohne Täter kein Opfer und ohne Opfer kein Täter. Und so verleiht sie nicht nur dem Opfer eine Stimme, sondern versetzt sich auch in die Psyche dessen, der kalt den Gashebel umlegt.

Dem fiktiven Opfer mit der freilich sehr realen Leidensgeschichte stellt sie den halbfiktiven Täter unter anderem Namen gegenüber (der später noch ein Vernichtungslager leiten wird. Aber das ist schon nicht mehr Bestandteil von Zoekes Roman.)

Das Opfer, der Professor für Altertumswissenschaft Max König, der an einer progressiv verlaufenden Nervenkrankheit leidet, erfährt von der Verfasserin die größtmögliche Empathie, und das ihm gewidmete Kapitel ist wahrlich anrührend und sehr nachvollziehbar geschrieben. Die Analyse des mit ihm entfernt verschwägerten SS-Mediziners Lerbe erfolgt sachlich und sozusagen von innen heraus. Mit blankem Entsetzen verfolgt der Leser dessen Hingabe an ein »Werk«, dass er ohne jedes Schuldempfinden als »notwendig« ansieht. Er nimmt sich selbst gar als eine Art »Opfer« wahr, weil er eine solche, zwar »wichtige«, aber eben doch auch widerwärtige Tätigkeit auszuüben »gezwungen« ist ... Keiner hat sich die Arbeit ausgesucht, »die wir jetzt ganz im Stillen für unser Volk verrichten. Keiner wird dafür ein Ritterkreuz bekommen...«

Eine Selbstgerechtigkeit, die schaudern macht: »Nach der Abfertigung von Bus Nummer zwei war ich so erschöpft, dass ich die Flasche mit dem Magenbitter hinter den Aktenordnern hervorholte.« Und man hat ja auch wirklich viel Arbeit: Die Angehörigen der vergasten Menschen müssen mit Trostbriefen »informiert« werden, es gilt, glaubwürdige Todesursachen zu attestieren.

Barbara Zoeke ist mit ihrer profunden Sachkenntnis und ihrer überwältigend facettenreichen Sprache ein Buch von bewundernswertem Einfühlungsvermögen und beispielgebender Menschlichkeit gelungen - in Zeiten, da manche glauben, wieder bestimmen zu müssen, wer zur »Volksgemeinschaft« gehört und wer nicht.

Barbara Zoeke: Die Stunde der Spezialisten. Roman. Die Andere Bibliothek, 294 S., geb., 42 €.