Anhören ist Bürgerpflicht!

Ursendung »Odyssee Mare Monstrum«, Hörspiel von Nikolas Darnstädt im Deutschlandfunk

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 4 Min.

Odysseus, besiegt und verstoßen von Troja, landet, entkräftet, betäubt, am Meeresstrand. Das Meer wogt und tost, es hielt den Griechen gefangen und brachte unendliches Leid über ihn. Erscheinungen quälen und besänftigen den Kopf des einstigen Helden, nun ein Niemand in der Leere der Gegend. Träume plagen ihn. Das Meer frisst, was verschlungen gehört, tönt es. Um ihn herum die Hilferufe der Ertrinkenden.

Derlei verbildlicht die Eröffnung des neuen Hörspiels, das am heutigen Samstagabend vom Deutschlandfunk ausgestrahlt wird: »Odyssee Mare Monstrum« von Nikolas Darnstädt. O. wird der Held und Geschlagene genannt. In seinem Wahn, geht die Erzählung des Mädchens, trifft er Nausikaa, Tochter des Alkinoos und dessen Frau Arete. Sie fragen einander viel, zärtliche Tonfälle flattern weiblicherseits wie Schmetterlinge, aber sie bleiben einander fremd. Die Mädchenstimme (Erzählerin) beschreibt, wie O. sich nach seiner Ankunft beugt und die fruchtbare Erde küsst, und er darauf sagt: »Ach nein, dies ist die Heimat nicht. Zu welchem Volke bin ich gekommen. Sind’s unmenschliche Räuber, sinnlose Barbaren, oder bin ich etwa nahe bei den redenden Menschenkindern?«

Mädchenstimmen klingen. Furchtbar erscheint O. diesen, vom Schlamm des Meeres besudelt. Furchtsam entfliehen sie hinter die Hügel. Alsdann erwartet ihn auf Bitten von N. (Nausikaa) der hochherrliche Alkinoos im prunkvollen Palast. O. tritt erschrocken ein und fühlt sich noch fremder als ohnedies. N. beschenkt ihn, kleidet ihn ein. Jetzt gleiche er den Gestirnen, der strahlenden Sonne, dem »schwarzen Loch« in der Milchstraße. »Du siehst aus wie der Mond.« Und es entspinnt sich ein Dialog über den Mond, ob sie beide ihn mögen und gar zu ihm hinauffahren würden. Ja, sagt sie. Er aber sehe den Mond kaum vor lauter Glastürmen dort, wo er herkommt, und außerdem wolle er glücklich sein, jetzt und sofort.

So geht die Handlung fort. Aber das wellige Glas des Geschehens hat Sprünge. Airport-Ansagen fahren drein, Rhythmen aus den unsäglichen Verhältnissen der Pariser Banlieues färben die Fläche rot. Und immer pulsierendes Rauschen. Mare Nostrum will retten, Mare Monstrum benennt in diesem Hörspiel die Abgründe. In Szene setzt es Reflexe auf Homers »Die Odyssee«, Kafkas »Das Schloss«, Thomas Braschs »Der Papiertiger« und Pierre Bourdieus »Das Elend der Welt«. Daneben artikulieren Rapper aus besagten Banlieues ihre Lust und Wut. Kritische Intellektuelle ergreifen das Wort. Krieg hauptsächlich habe die Aufblähung des Terrorismus in der Welt ausgelöst, das Meeresgrollen auf den Strecken der Flüchtenden und die unzähligen Leichen im Mittelmeer gingen auf sein Konto.

Davon spricht diese hervorragende Hörspielarbeit, die jeder anhören sollte. Griechische Mythologie verschränkt sich darin mit dem Alltag der Leidenden, denen das Wasser wortwörtlich bis zum Hals steht. Aus dem Airport tönen die Ansagen so, als würden sie den Abgeschobenen die letzten Hinweise geben. »Und du bist über den Ozean gereist, um mich zu besuchen?«, entfährt es N., und sie fragt O., ob er es aushalten würde in ihrer Sonnengegend, wo doch alles anders sei. Dann führt sie den Fremden durch die Gegend und warnt ihn vor denen, die nicht mögen, dass jemand von woanders herkommt.

Wieder harsche Unterbrechung. Ein gebeutelter Libyer, nach seiner Familie suchend, beklagt das Unrecht der Welt. Abermals Stimmen aus den Banlieues um Paris, wo niemand sich kümmert und die Bekümmernis wächst und mit ihr die Wut. Auch deutsche Stimmen vernehmen sich. Eine sagt: »Viele riskieren alle Habe und das Leben, um hierherzukommen, und dann fallen sie aus allen Wolken.« Anlass, Splitter aus den Höllen des Amüsements loszutreten, gewürzt mit Nazisprüchen Open Air, dass der Deutsche weit drüberstehe.

Das quälenden Träumen entschlüpfte Paar tanzt, O. zwar widerwillig, aber er tut es, und der Pöbel erregt sich erst recht. O. wiegt sich in Illusionen: »Sicher als das Vaterland ist nicht auf Erden zu finden.« Doch es kommen Zweifel auf. Wo kann ich überhaupt leben? Chöre fallen ein: »Hier ist der Fluch der Straße. O Mensch verdirb, um hier nicht zu verderben.« Was ist Fremdsein? Darüber redet unentwegt das Paar, und beide verstehen sich nicht. Ritualförmig aus verschiedenen Klangquellen kommt der eindringliche Satz: »Wo ich lebe, will ich nicht sterben. Aber wo ich sterbe, da will ich nicht hin. Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.« Schließlich soll O. mit dem schwarzen Schiff in den Hades, ins Reich der Toten eintreten, um seine Reise zu beenden. Hinein käme jeder, aber niemand wieder heraus. N. und O. kommen nicht zusammen. »Du bist mir fremd«, sagt N. Wären wir doch ausgewandert, dorthin, wo wir nie gewesen sind. Schließlich erwacht O. aus dem Schlaf. Er erkennt sich nicht, doch er hat viele Fragen. Wo bin ich? Was ist das für ein fremder Ort?

Neben arrivierten Kräften wie Katrin Angerer wirken Studenten der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch aus Berlin mit. Autor Nikolas Darnstädt führte selbst Regie. Gratulation dem Deutschlandfunk. Das Anhören des Stücks ist Bürgerpflicht.

Deutschlandfunk, 9. September, 20.05 Uhr

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