nd-aktuell.de / 16.09.2017 / Wissen / Seite 25

Frei geboren

Am Steinhuder Meer in Niedersachsen wurde der überaus seltene Europäische Nerz wieder angesiedelt. Mittlerweile gibt es Nachwuchs in freier Wildbahn

Kai Althoetmar

Das Tausend-Seelen-Dorf Winzlar, 30 Kilometer nordwestlich von Hannover, ist ein Flecken niedersächsischer Backsteinidylle: ziegelrot geklinkerte Höfe, Streuobstwiesen, Rapsfelder, eine Biobäckerei. Zum Steinhuder Meer sind es keine zwei Kilometer Fußweg durch das Naturschutzgebiet Meerbruchswiesen. Feuchtwiesen umsäumen den Fuß- und Radweg. Per Fernglas ist ein Seeadlerhorst auszumachen. Seit 2000 brüten die Seeadler wieder an Deutschlands größtem Flachsee. 2006 kehrte ein erstes Fischadler-Paar zurück - dank Nisthilfe der Ökologischen Schutzstation Steinhuder Meer e.V. (ÖSSM) in Winzlar. Beide Adlerarten waren lokal schon vor 1900 ausgestorben.

Zuletzt haben die Artenschützer noch ein Tier heimgeholt, das wie kaum ein anderes in Europa vom Aussterben bedroht ist: Der Europäische Nerz wurde am Steinhuder Meer wieder angesiedelt. Rund 130 Nerze sind schon unterwegs. Seit 2015 läuft das Monitoring.

Inzwischen ist der ÖSSM der langersehnte Erfolgsnachweis gelungen, dass die Nerze in der Sumpf- und Seenlandschaft Fuß gefasst haben: Nachwuchs in freier Wildbahn. Der Fortpflanzungsnachweis gelang den Artenschützern per Kamerafalle. Auswertungen aufgestellter Fotofallen zeigen eine Nerz-Fähe, die mindestens drei noch unselbstständige Jungtiere nacheinander im Maul zu einem neuen Versteck trägt. «Die Wurfhöhle kannten wir schon, mieden das Gebiet jedoch großräumig, um das Nerzweibchen nicht zu stören», berichtet Eva Lüers, Koordinatorin des Nerz-Projekts bei der ÖSSM. Bei den Fotos handele es sich um die ersten aus Deutschland überhaupt, die im Freiland gezeugte und geborene Nerze zeigen. 92 Jahre war der heimische Nerz in Deutschland von der Bildfläche verschwunden.

Für das Wiederansiedlungsprojekt fällt die bisherige Bilanz recht gut aus: «Die Europäischen Nerze kommen im Ansiedlungsgebiet sehr gut zurecht, wie Telemetriedaten und Beobachtungen zeigen», sagt Eva Lüers. Thomas Brandt, wissenschaftlicher Leiter der ÖSSM, meint, es brauche «einen langen Atem», und fügt hinzu: «Ausrotten geht oft schneller.»

Bislang kamen kaum Nerze zu Tode. Pro Jahr wurden zwei bis drei Tiere tot aufgefunden. «Die Überlebensrate ist somit als recht hoch einzuschätzen und dürfte nicht unter der einer freilebenden Population liegen», sagt die Landschaftsökologin. Ein Tier biss ein Fischotter tot. Zwei Abwanderer fielen Autofahrern zum Opfer. Andere bezogen planmäßig Reviere am See.

2010 startete das Projekt von ÖSSM, dem Verein EuroNerz in Hilter bei Osnabrück und der Wildtier- und Artenschutzstation in Sachsenhagen. Von allein wäre der Nerz nicht wiedergekommen. Die naturnahen Uferzonen des Flachsees sind für das Projekt ideal. Seit 2010 wurden jährlich im Schnitt 20 Nerze ausgewildert. Alle tragen einen Passivchip, der auf kurzer Distanz ausgelesen werden kann. 36 Tiere sind mit aktiven Radiosendern versehen. Die Tiere stammen aus einem Europäischen Erhaltungszuchtprogramm (EEP), das der Zoo von Estlands Hauptstadt Tallinn leitet.

Vor der Auswilderung am Steinhuder Meer wurden schon im Saarland und im Emsland Nerze wiederangesiedelt. Im Saarland wurden von 2006 bis 2013 in den Tälern der Ill 162 Nerze ausgewildert, im Unteren Hasetal von 2000 bis 2009 rund 50, alle mit Sender.

Zur Auswilderung wurden am Seeufer Gehege aufgebaut. Nach zwei Wochen Fütterung wurde eine Klappe geöffnet. Vor dem Seeufer liegt sumpfiger Erlenbruchwald. Die Bäume kippen irgendwann um, dem Nerz dienen die Wurzelteller als Versteck. Ein hölzerner Beobachtungsturm am Seeufer gibt Ausblick auf sein Reich. Im Winter, erzählt Thomas Brandt, liefen die Nerze auch über den gefrorenen See ans andere Ufer: «Zwölf Kilometer!»

In Deutschland war der Europäische Nerz lange ausgestorben. 1925 war der letzte Nerz im Allertal gefangen worden, unweit des Steinhuder Meeres. In der Schweiz wurde er letztmals 1894 gesichtet, aus Österreich verschwand er um 1880. In einer Neuausgabe von «Brehms Tierleben» konnte man 1973 gar lesen, die Art sei «heute wohl völlig ausgerottet.

Die Ursachen für das Verschwinden von Mustela lutreola waren Bejagung, Begradigung von Flüssen und Bächen, Gewässerverschmutzung, Bau von Wasserkraftwerken und der Niedergang ihrer Leibspeise, der europäischen Flusskrebsbestände. Nicht zu vergessen die Konkurrenz durch den Amerikanischen Nerz, den Mink, der größer und aggressiver ist und den Euro-Nerz aus seinen Revieren in Nebengewässer abdrängt. Dort droht dem der Hungertod.

»Minks gibt es bei uns nicht«, sagt Eva Lüers. Deren nächstgelegene Population sei im Raum Diepholz, 80 Kilometer entfernt. Sollte der Mink aber in den Naturpark Steinhuder Meer einwandern, könnte das ganze Nerz-Projekt für die Katz gewesen sein.

Die Weltnaturschutzunion listet den Europäischen Nerz als »vom Aussterben bedroht«. Brandt sagt: »Für diese Tierart ist kurz vor Zwölf.« Ursprünglich war der Euro-Nerz im Westen, Osten und der Mitte Kontinentaleuropas verbreitet. Heute leben nur noch kleine, isolierte Bestände im Westen Frankreichs, in Nordspanien, in Rumäniens Donaudelta, in Estland, der Ukraine und in Russland westlich des Urals. »Die in Rumänien sind vermutlich die beste Population, die es noch gibt«, sagt der Biologe Tiit Maran vom Zoo Tallinn, der führende Experte für Europäische Nerze.

Die Einzelgänger brauchen bewaldete und schilfbewachsene Ufersäume oder Sumpf, das Wasser muss sauber sein. »Der Nerz ist Lebensraumspezialist für diese Uferbereiche«, berichtet Christian Seebass von EuroNerz. Zum Schutz vor Fressfeinden brauche er Deckung und Unterschlupf. Den nehme ihm aber der Mensch. Der Biologe zählt die Übel auf: »Kahlschlag, Bebauung, Begradigung, Anlage von Uferböschungen, Weidevieh direkt am Ufer.«

Fische, Frösche und Krebse sind seine Alltagskost. Am Steinhuder Meer, sagt Brandt, fresse der Nerz vor allem Rotaugen, eine Karpfenart. »Er tötet auch auf Vorrat.« Auch kiloweise Frösche, die während der Winterstarre unter der Eisdecke ein leichter Fang sind. »Die Beute deponiert er dann.«

Tiit Maran gelang es erstmals, Nerze im Zoo zu züchten. Auf der estnischen Ostseeinsel Hiiumaa, auf der zuvor der Mink ausgerottet wurde, setzte der Biologe 40 Tiere aus. Auch aus Estland war der Nerz zuvor verschwunden. Und was gefährdet den Nerz heute? »Die größte Gefahr«, sagt Maran, »sind Füchse und verwilderte Hunde.«

Langfristig ist die größte Bedrohung aber der Mink. Der Vetter aus Amerika kam um 1920 als Pelzlieferant nach Europa. In den 1980er Jahren begannen Tierschützer Farmnerze aus Käfigen zu befreien. Am Steinhuder Meer droht dieses Szenario bislang nicht: In der Region gibt es keine Minkfarmen. Acht Nerzfarmen gibt es nach Angaben des Deutschen Tierschutzbundes noch in Deutschland.

Europaweit breitet sich der Mink weiter aus, die Populationen wachsen zusammen. Allein mit Jagd ist der Spezies nicht beizukommen. Zu anpassungsfähig ist der Mink. Wiederansiedlungen des Euro-Nerzes, meint Seebass, seien nur sinnvoll, wo der Mink nicht vorkommt. In Weißrussland ging das Verschwinden des Wildnerzes einher mit der Ankunft des Minks. So ähnlich die beiden Arten sich sind - Platz ist jeweils nur für eine da.

Europäischer Nerz

Der Europäische Nerz (Mustela lutreola), wegen seiner Lebensweise früher auch Sumpfotter genannt, ist eine Tierart aus der Familie der Marder. Die Tiere erreichen eine Rumpflänge von 28 bis 43 Zentimetern, der Schwanz wird 12 bis 19 Zentimeter lang. Ihr dichtes, wasserabweisendes Fell ist rotbraun bis schwärzlich, die Unterseite etwas heller, oft tragen sie weiße Flecken an der Kehle. Zwischen den Zehen der relativ kurzen Beine tragen sie Schwimmhäute. Anders als ihre amerikanischen Verwandten wurden sie nie in Pelztierfarmen gehalten.

Mink

Der Amerikanische Nerz (Neovison vison), auch Mink genannt, gehört zwar auch zur Familie der Marder, ist aber mit seinem europäischen Namensvetter nur entfernt verwandt. Die beiden Arten lassen sich nicht kreuzen. Körperbau und -länge sind ähnlich wie beim Europäischen Nerz, auch Minks besitzen Schwimmhäute. Allerdings werden sie deutlich schwerer. Von Hause aus ist ihr Fell braun. Doch infolge langjähriger Züchtung für die Bedürfnisse der Pelzhersteller gibt es heute viele Farbvarianten.