nd-aktuell.de / 22.09.2017 / Politik / Seite 3

»Frankreich zahlt für Fehler anderer«

Der Forscher Andrew Watt über die Rolle der Bundesrepublik und Europas bei Macrons Reformen

Eva Roth

An diesem Freitag will die französische Regierung ihre Arbeitsmarktreformen endgültig beschließen. In Deutschland ist der Arbeitsmarkt schon vor Jahren dereguliert worden, mit der Agenda 2010 und Öffnungsklauseln in Tarifverträgen. Folgt die Macron-Regierung nun dem deutschen Beispiel?
Die Agenda 2010 war viel umfassender als das, was die französische Regierung jetzt beschließen will. Es gibt aber vergleichbare Elemente, und damit meine ich zunächst einmal die tariflichen Änderungen, die Sie angesprochen haben. In Deutschland haben Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände nach der Jahrtausendwende tarifliche Öffnungsklauseln vereinbart, die es einzelnen Unternehmen ermöglichen, kontrolliert von Tarifstandards abzuweichen. Zuvor waren immer mehr Unternehmen aus dem Tarif ausgestiegen. Diese Regelungen sind in zeitlichem und wohl auch inhaltlichem Zusammenhang mit der Agendapolitik entstanden. Auch in Frankreich ist jetzt eine Dezentralisierung der Lohnfindung geplant.

Künftig soll es möglich sein, dass Firmenleitung und Vertreter der Beschäftigten in Eigenregie Arbeitsbedingungen in einem Betrieb aushandeln und vom Tarifvertrag abweichen. Welchen Effekt wird das haben?
Die Regelung ist sehr ambivalent. Wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer - vorausgesetzt Letztere sind richtig legitimiert - auf Firmenebene über diverse für Unternehmen und Belegschaft wichtige Themen verhandeln, kann das zwar das Tarifsystem und die Tarifparteien stärken. Es kann aber auch sein, dass die Beschäftigten über den Tisch gezogen werden, wenn sie in einer schwachen Position sind und um ihre Jobs fürchten. Wie die Regelung wirkt, hängt also stark von der Arbeitsmarkt-Situation ab.
Die Arbeitslosigkeit ist in Frankreich hoch. Und in Deutschland sind die Öffnungsklauseln oft genutzt worden, um längere Arbeitszeiten oder Lohnkürzungen durchzusetzen. In der jetzigen Situation wird die Dezentralisierung also wahrscheinlich zu einem schwächeren Lohnwachstum führen.

Dabei sind die Gehälter in Frankreich in der Vergangenheit gar nicht besonders stark gestiegen, oder?
Nein. Die Lohnstückkosten sind pro Jahr im Schnitt um knapp zwei Prozent gestiegen. Das ist eine optimale Entwicklung, die wir uns für die ganze Eurozone gewünscht hätten. Denn der Zuwachs entspricht genau dem Inflationsziel der Europäischen Zentralbank. Das stabilisiert die Lohneinkommen, erleichtert der Zentralbank ihre Aufgabe und verhindert unerwünschte Verschiebungen der Wettbewerbsfähigkeit.

Frankreich war eigentlich ein Vorbild.
Genau. Die Tarifparteien und die Politiker haben sich lohnpolitisch verantwortungsvoll verhalten - nur Deutschland war nicht brav. Hier sind die Einkommen extrem schwach gestiegen und real über Jahre sogar gesunken. Das hat die französische Wirtschaft in Schwierigkeiten gebracht. Ihre preisliche Wettbewerbsfähigkeit hat sich gegenüber deutschen Firmen verschlechtert. Im Grunde zahlt Frankreich für wirtschafts- und lohnpolitische Fehler Deutschlands.

Und nun will Macron auch in Frankreich das Lohnwachstum bremsen?
Die Regierung steckt in der Klemme. Was soll sie tun, um die Wirtschaft anzukurbeln und den Jobaufbau zu fördern? Fiskalpolitisch kann sie kaum etwas machen wegen der EU-Regeln. Die Regierung hat zuletzt massiv gespart, um das staatliche Defizit zu senken. Die nationale Währung abwerten kann sie nicht, weil sie keine eigene Währung hat. Macron kann auch nicht per Dekret beschließen, dass die Gehälter und Preise in Deutschland stärker steigen. Das würde Frankreich mehr Spielraum verschaffen. Da auch die Produktivität nicht über Nacht erhöht werden kann, wird Frankreich gezwungen, über Lohnzurückhaltung die Wettbewerbsfähigkeit der Firmen zu verbessern.

Die Europäische Zentralbank wundert sich über das schwache Lohnwachstum in Europa. Wenn man Ihnen so zuhört, ist das nicht mehr so verwunderlich. Dann gibt es einen permanenten Lohndruck, der mal in Deutschland stärker ist, mal in Griechenland und jetzt eben in Frankreich. Aber wieso steigen hierzulande die Gehälter nicht stärker, die Arbeitslosigkeit ist doch relativ niedrig!
Darüber rätseln viele. Vielleicht haben alle Beteiligten, einschließlich der Gewerkschaften, Angst, dass deutsche Firmen wieder an Wettbewerbsfähigkeit verlieren, die Arbeitslosigkeit steigt, und dann weitere Einschnitte bei den Arbeitnehmerrechten verlangt werden. Unter der Oberfläche ist auch der deutsche Arbeitsmarkt nicht nur rosig: Es gibt zu viele Teilzeitjobs und Befristungen. Wer einen befristeten Vertrag hat, streikt nicht einfach oder geht zu seinem Boss und sagt: Ich will mehr Geld.

Nochmal zu den Öffnungsklauseln in Tarifverträgen. Sie ermöglichen Lohnkürzungen, zum Beispiel, wenn eine Firma in wirtschaftlichen Schwierigkeiten ist. Funktioniert das?
Im Einzelfall kann das klappen. Gesamtwirtschaftlich ist eine zu weitgehende Öffnung aber problematisch. Denn Branchentarifverträge, an die sich alle Unternehmen halten müssen, fördern gute Firmen: Sehr produktive Betriebe könnten die tariflich vereinbarten Lohnzuschläge locker zahlen. Unproduktive Firmen sind gezwungen zu rationalisieren und gehen im Extremfall pleite, weil sie die Gehälter nicht mehr aufbringen können. Weil die modernen, produktiven Firmen überleben, ist das grundsätzlich gut für die wirtschaftliche Entwicklung und die Reallöhne der Beschäftigten.

Zurzeit wächst die Produktivität nur sehr langsam. Liegt das genau daran: Lohnkürzungen sind einfacher geworden und deshalb können Unternehmen überleben, die zum Beispiel schon lange nicht mehr in moderne Maschinen investiert haben?
Ich bin überzeugt, dass das geringe Produktivitätswachstum etwas zu tun hat mit der geringeren Tarifbindung. Wenn Firmen in Schwierigkeiten kommen, dann heißt es relativ schnell: Okay, dann zahlen wir kein Weihnachtsgeld. Das ist eine Art Subvention für unrentable Firmen. Bei Energiekosten geht das nicht. Da kann die Firma nicht sagen: Ich zahle jetzt weniger für den Strom.

Belegschaften machen Zugeständnisse, weil sie ihren Job nicht verlieren wollen.
Wichtig ist: Das Modell mit strikten Branchentarifverträgen setzt voraus, dass entlassene Menschen wieder neue Arbeit finden, weil die Wirtschaft gut läuft, weil Beschäftigte mit höheren Reallöhnen mehr Güter und Dienstleistungen nachfragen. Eine aktive Arbeitsmarktpolitik braucht es auch. Deutschland ist einen anderen Weg gegangen und hat auf Exporte gesetzt, auf die Nachfrage aus dem Ausland. Das kann aber nicht jedes Land tun.

Aber Frankreich versucht doch jetzt im Grunde das Gleiche und will die Löhne bremsen, damit die Firmen international wettbewerbsfähiger werden. Hat die Macron-Regierung wirklich keine andere Wahl?
Eigentlich brauchen wir eine bessere Koordinierung der Wirtschaftspolitik in Europa. Aber auch unter den gegebenen Umständen gibt es meines Erachtens zielgenauere Mittel gegen die Arbeitslosigkeit. In Frankreich ist die Beschäftigungsquote unter Menschen zwischen 25 und 55 Jahren etwa so hoch wie in Deutschland. Große Unterschiede gibt es bei jungen und älteren Leuten. Die Jugendarbeitslosigkeit ist in Frankreich sehr hoch und viele Ältere sind in Frührente. Nur ungefähr die Hälfte der 55- bis 65-Jährigen arbeitet. Hier könnten Regelungen ansetzen.

Was schlagen Sie vor?
Bevor man den ganzen Arbeitsmarkt dereguliert und ans Tarifsystem rangeht, könnte man die relativ großzügige Frühverrentung ändern. Die Integration von jungen Menschen muss besser gelingen. Deutschland und Österreich haben mit einem dualen Ausbildungssystem gute Erfahrungen gemacht. So ein System kann man aber nicht hopplahopp einführen, das dauert Jahre. Außerdem denke ich, dass man sich auch den Mindestlohn anschauen müsste. In Frankreich ist er im internationalen Vergleich hoch, gemessen am Medianeinkommen. Deutlich höher als zum Beispiel in Deutschland. Das muss kein Problem sein. Aber zudem gibt es keinen reduzierten Mindestlohn für junge Beschäftigte, anders als in den Niederlanden oder in Großbritannien. Mir ist klar, dass das nicht populär ist. Aber die Einführung eines reduzierten Satzes für Jugendliche in Kombination mit Einschränkungen der Frühverrentung, das könnte ein Paket sein, das als zielgerichtet und ausgewogen wahrgenommen würde.

Damit plädieren Sie auch für Lohnkürzungen.
Nein. Richtig ist, dass solche Maßnahmen das Arbeitsangebot erhöhen. Dies würde zu einem günstigen Zeitpunkt geschehen, weil die Beschäftigung zurzeit in Frankreich steigt. Diese Maßnahmen würden tendenziell ein etwas langsameres Ansteigen der Nominallöhne bedeuten als ohne. Unter den gegebenen Umständen kommt Frankreich wohl nicht drum herum und so würde man einschneidende Änderungen im Tarifsystem vermeiden.

Arbeitsmarktreformen schaffen aber keine Jobs.
Stimmt. Wirtschaftswachstum schafft Arbeitsplätze, und zum Glück zieht das Wachstum in Frankreich und im Euroraum zurzeit an. Bei alldem gibt es aber auch eine politische Seite: Deutschland verlangt von Frankreich Reformen. Macron setzt darauf, dass, wenn er sie liefert, die neue Bundesregierung ihm an anderer Stelle entgegen kommt. Macron plädiert gleichzeitig und richtigerweise für eine wachstumsfreundlichere Politik in Europa, für Eurobonds, für einen europäischen Finanzminister. Das sind Bedingungen für dauerhafte und breite Verbesserungen der Arbeitsmarktsituation im Euroraum.

Aber wird Deutschland Frankreich denn entgegen kommen?
Vielleicht lässt sich Deutschland trotz der Zugeständnisse nicht auf eine Reform der Wirtschafts- und Finanzpolitik ein. Wobei das natürlich auch vom Wahlergebnis abhängt. Aber ohne Zugeständnisse wird Frankreich von Deutschland mit Sicherheit nichts bekommen.