Bedrohtes Hirn im Bauch

Darmkrebs entsteht durch fettes Essen und Bewegungsmangel

  • Walter Schmidt
  • Lesedauer: 5 Min.
Wenige Menschen wissen, wie sehr Gesundheit und seelisches Wohlbefinden von ihrem Darm abhängen. Lieber verschweigen sie alles, was mit dem geschlängelten Organ im Unterleib zusammenhängt - und riskieren so ihr Leben.
Die Wahl zum ekligsten Organ würde der Darm vermutlich locker gewinnen. Was soll man auch halten von einem vier bis sechs Meter langen Schlauch, der auf rätselhafte Weise Kartoffeln und Bratwurst, Schoko-Eis und Apfelkuchen verwertet und dabei Abfälle erzeugt, die man klammheimlich an stillen Örtchen entsorgt? Wobei man obendrein zweifelhafte Gerüche hinterlässt. Lange her, dass Respektspersonen wie der Reformator Martin Luther ohne Verlust des Ansehens ausrufen konnten: »Aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz!«

Lebensweise schadet dem Darm
In einer Welt, die auf keimfreie Hygiene und Wohlgerüche aus Deo-Rollern und Toilettensteinen versessen ist, musste der Darm zum Tabu werden. Schon das Wort Kot ist verpönt. Lieber sagt man verschämt »Stuhl«. »Wir riskieren lieber eine Verstopfung, als zu Besuch bei Freunden einem dringenden Verlangen nachzugeben«, schreibt die Wissenschaftspublizistin Petra Thorbrietz in ihrem Buch »Gesundheit aus dem Darm«.
Etwa fünf Prozent der Bundesbürger erkranken im Laufe ihres Lebens an Darmkrebs, jedes Jahr wird das Leiden bei 71 000 Menschen hierzulande festgestellt - bei 29 000 Männern und Frauen leider zu spät. Die meisten von ihnen könnten durch rechtzeitige Vorsorge-Untersuchungen gerettet werden. Doch nur 28 Prozent der Frauen und 17 Prozent der Männer gehen zur Vorsorge-Untersuchung.
Die Zahl der Menschen mit Darmproblemen zeigt, wie ungesund für den Darm unser Leben inzwischen geworden ist. Etwa jeder dritte Bundesbürger klagt über eine nicht reibungslos ablaufende Verdauung. Für Experten kein Wunder. Mit ungesunder Lebensweise greifen wir ständig die Schutzbarriere im Darm an und zerstören sie durch Alkohol, Nikotin oder Koffein, so Christine Uhlemann, die Leiterin des Kompetenzzentrums für Naturheilkunde im Uniklinikum Jena.
Allein die Zahl der Verstopfungen wird auf Millionen geschätzt. Der Bundesverband der Innungskrankenkassen (IKK) geht davon aus, dass »etwa jeder dritte Bundesbürger« weniger als dreimal pro Woche seinen Darm entleeren kann und also unter Verstopfung leidet. Das mag zu hochgegriffen sein, doch die Dunkelziffer ist groß. Viele Betroffene behandeln sich selber mit rezeptfreien Abführmitteln, und leider begeht eine große Zahl unter ihnen dabei riskanten Missbrauch. Regelmäßig eingenommene Flottmacher schwächen den Darm nämlich weiter, indem sie seine Muskulatur lähmen und langfristig die Darmschleimhäute angreifen.

Verstopfung sollte man vorbeugen
Jeder zweite Patient, der von Ärzten wegen einer Verdauungsstörung behandelt wird, leidet an einem sogenannten Reizdarm. Symptome sind Unwohlsein, Bauchschmerzen, aber auch Depressionen, Durchfall und Verstopfung sowie Blähungen und mit Schleim durchsetzter Kot. Untersuchungen aus den USA deuten darauf hin, dass etwa jede fünfte Frau (14 bis 24 Prozent) und jeder achte Mann (5 bis 19 Prozent) einen gereizten Darm aufweisen.
Wünschenswert ist ein möglichst rascher Darmdurchgang, wie ihn eine fett- und fleischarme Ernährung begünstigt, aus einem simplen Grund: Je schneller Nahrungsreste wieder ausgeschieden werden, umso kürzer sind schädliche und möglicherweise Krebs begünstigende Substanzen im Kontakt mit den Schleimhäuten von Magen und Darm. Deshalb sind Ursachen von Verstopfung möglichst auszuschließen. »Zu hastiges, zu fettreiches und zu ballaststoffarmes Essen, Bewegungsmangel, zu wenig Flüssigkeit, aber auch Stress« listet die IKK als Auslöser von Darmträgheit auf.

Verdauung steuert das Gefühl
Die tägliche Menge an Kot hat ohnehin abgenommen: Während naturfern lebende Mitteleuropäer nur noch 100 bis 250 Gramm davon ausscheiden, bringen es beispielsweise afrikanische Bauern mit einer ballaststoffreicheren Kost auf das Doppelte bis Dreifache. Auch die Deutschen essen viel zu wenig Obst, Gemüse und Vollkorn-Erzeugnisse. Wie heißt es doch in einer alten Volksweisheit? »Ein Apfel im Haus ersetzt den Arzt.« - wohl wahr. Denn Äpfel enthalten Pektin, einen löslichen Ballaststoff, der Schadsubstanzen bindet und den Darm säubert - um nur zwei günstige Effekte zu nennen.
Der Darm ist aber weit mehr als ein Abflussrohr. Längst ist erwiesen, dass der Magen-Darm-Trakt unser seelisches Erleben mitsteuert. Wer einen nervösen Magen oder Darm hat, zeigt damit nur deutlicher als robustere Naturen, dass kein anderes Organ so sensibel auf Gefühle, Stress, Wut und Trauer reagiert wie unser Verdauungsapparat. »Viel körperlich und seelisches Weh hat seine Ursache meist im Bauch«, befand schon Pfarrer Sebastian Kneipp (1821-1897).
Heute weiß man, dass der Darm von hundert Millionen Nervenzellen umgeben ist. In der Darmwand sind sie zu zwei komplexen Geflechten verwoben. Das sogenannte »Darmhirn« führt weitgehend ein Eigenleben, schon weil es entwicklungsgeschichtlich älter ist als die Schaltzentrale im Kopf. Nicht umsonst fällen Menschen viele Entscheidungen »aus dem Bauch heraus«. Dieses »Bauchgefühl« ist unsere Intuition, die meist schon einige Zeit vor dem eigentlichen Hirn weiß, was zu tun ist, auch wenn der Kopf sich noch verbissen mit kühlen Argumenten, Ausflüchten oder eingefleischten Schuldgefühlen dagegen wehrt. Die Engländer nennen die Weisheit aus dem Unterleib sogar »gut feeling«, also Darmgefühl. Kinder haben noch unvermittelter Kontakt dazu, reagieren sie doch auf belastendes Ungemach oft mit schwer erklärlichem Bauchweh.
Lange war Medizinern die Sonderstellung des Darms bei der Immunabwehr nicht klar - das zumindest hat sich geändert. »Ein gut funktionierender Darm ist wesentlich für unsere Vitalität und unser Wohlbefinden«, sagt Medizinerin Christine Uhlemann. »Man könnte auch sagen, er ist der Dreh- und Angelpunkt für psychische und physische Gesundheit.«

Hans-Dieter Allescher, Astrid C. Kors, Verena Drebing, Christa Maar: Hilfe bei Darmkrebs, Trias Verlag, 17,95 EUR.
Petra Thorbrietz: Gesundheit aus dem Darm, 19,95 EUR.
Internet:
www.darmkrebs.de
www.darmkrebsmonat.de
www.krebsinformation.de
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