Fröhliche Fremd-Wütigkeit

Zum Welttourismus-Tag: Gedanken zu einer (nicht nur) deutschen Sehnsucht

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Der erdumspannende Tourismus hat längst zu seiner Konsequenz gefunden: Wir reisen nicht, wir werden transportiert. Goethe ließ seine Iphigenie noch von der Sehnsucht sprechen, das Land der Griechen mit der Seele zu suchen. Nun, mit Hilfe des nächstgelegenen Reisebüros geht das weit schneller und ist auch weit weniger anstrengend. Und überhaupt: Sandalen statt Seele!

Bedenkt man, wie rasend sich bei vielen Menschen eine Trennung vollzieht zwischen angepasster Arbeit und dem »wirklichen Leben« jenseits davon, so versteht man, dass sich jeder Tourismus mehr und mehr zum kulturellen Mythos verfestigt: Es ist das Versprechen von Erlösung - nach unverdientem Leiden in Büro und Betrieb. Weil wir uns hauptsächlich entfremdet erfahren, wird die Wirklichkeit kurzzeitig gnadenlosem All-inclusive-Denken unterworfen. Wir wollen den Platz an der Sonne, weil wir ein letztes Ghetto dessen brauchen, was uns erlebenswert, hell, ungetrübt scheint.

Sehnsucht bleibt ein ernstes Problem unserer inneren Verfassung. Dieser untilgbare Wunsch, das Schöne, Gute, Wahre ausdauernd dort zu vermuten, wo man gerade nicht ist. Daher ist Karl May unser wahrer Nationaldichter. Nicht nur, weil Radebeul gut zu Radeberger passt, nein, weil dieser literarische Präriewanderer, der nie groß aus Sachsen herauskam, so treffend schrieb: »Es ist etwas Fremdwütiges in uns, das uns nicht zur Ruhe kommen lässt; wir wollen so heftig hinaus aus dem eigenen Raum, dass es seltsam anmutet, wie wir uns dabei verleugnen und in Sehnsucht verkrampfen.« Also: Unsere Sehnsucht ist niemals wirklich glücklich, sie kann nur melancholisch auftreten. Es ist ein Seelenzustand, der das Ungenügen, das einen umgibt, erträglich machen soll. Deshalb: Malaga statt Malchow! Toskana statt Torgau!

Im Grunde ist alles Sehnen nach der vielfarbigen Ferne nichts anderes als die inständige Bitte, ein anderes Lebensgefühl kaufen zu können. Wir Deutsche sind dauernd damit befasst, andere zu beneiden. Jeden Italiener, jeden Franzosen, jeden Spanier. Sämtliche fremde Aufdringlichkeit funktionieren wir um in zupackenden Charme; südländische Lautstärke deuten wir geradezu blind als Frohsinn um. Diesem Verhalten dienend, wurde es daher zum Breitensport, aus jedem deutschen Umstand, ohne groß zu überlegen, einen germanischen Ausbund an Größenwahn, uncharmanter Anmaßung, schweißtreibender Arbeit zu machen. Sei es der deutsche Humor, der FC Bayern München, der Fasching, Helene Fischer oder der unschuldige Gartenzwerg.

Wir fahren und fahren, aber eben nicht aus unserer Haut. Denn auch im Ausland, im Urlaub siegt leider irgendwann das Kassler-Gen, das Bockwurst-Gemüt. Wir betreiben Tourismus nicht, um irgendwo anzukommen; wir reisen bevorzugt, um uns selber zu entkommen. Das Furchtbare daran ist bloß, dass man uns das überall ansieht. Was uns dann noch fremder, hilfloser - und also deutscher macht.

Vielleicht sind wir zu sehr geschlagen mit einer Mittel-Lage der Ausgewogenheit, die in regelmäßigen Abständen fatal zum Ausbruch ins Fremde drängt. Denn: Wir liegen zwischen Norden und Süden, wir verfügen über Meer und Hochgebirge; geografisch, klimatisch und durchaus auch in anderen Dingen neigt Deutschland zur Balance, zum Ausgleich. Mag sein, dass es uns, weil wir vor Mitte überquellen, nicht so gut gelingt, diese Mitte mit Wohlbefinden auszufüllen.

Dass wir anders sein wollen, als wir sind, und der Tourismus weiter boomt - es ist womöglich auch Ausdruck eines Zeitgeistes: Die Gesellschaft applaudiert nämlich jedem, der Übereinstimmung mit sich selbst für weniger wichtig hält als Übereinstimmung mit anderen. Ausgerechnet die Welt der schier uneingeschränkten Freiheiten schuf eine Kultur- und Erlebnisindustrie, die beflissen die Abstände zwischen uns schleift; diese Industrie hat es geschafft, dass sich viele Menschen gar nicht mehr für sich selber interessieren, sondern aufgehen in medialen Scheinwelten, in verführerischer Gleichschaltung durch Moden und Popkultur. Und durch Reiseprospekte, die ein kurzfristiges Spitzenglück versprechen. Sich zu unterscheiden von anderen, sich allgemeinem Geschmack zu widersetzen - das ist eine erhebliche Mühe geworden. Diese Mühe bringt uns in Konflikt mit einem Grundbedürfnis: Der Mensch will sich seiner Eigenart erfreuen, aber zugleich nicht mit ihr auffallen müssen. Der Welttourismus ist die größte Massenorganisation der Mitläuferschaft.

Wir werden uns nicht ändern können. Jeder trägt in sich Elemente dessen, was sich über evolutionäre, geschichtliche, kulturelle Prozesse und lange Zeiträume als das sogenannte Deutsche entwickelt hat. Aber wenn wir weltreisen: Läge der Genuss am Fremden nicht gerade darin, dass wir just Freude darüber empfinden, dass uns etwas fremd bleibt? In einem Buch über den Niedergang französischer Lebensart schreibt der Philosoph An᠆dré Glucksmann: »Wir Franzosen haben uns an das gewöhnt, was sehnsüchtig verklärende Ausländer seit Ewigkeiten als Bild unserer Regionen gemalt haben. Ein verklärtes Bild, das einem Traum gerecht werden soll, für den man jedes Jahr erhebliches Urlaubsgeld bezahlt. Mit der Realität hat dieses Frankreich-Bild nichts zu tun, denn wir sind unerträglich wie alle. Aber wer will schon die Realität, wenn es ans Träumen geht?« Kann man’s deutschlicher sagen?

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