Der virtuelle Volkskorrespondent

Das Web 2.0 soll im Zeitalter der Globalisierung die Informationsflüsse demokratisieren. Zweifel sind jedoch angebracht

  • Peter Richter
  • Lesedauer: 7 Min.
Mit Web 2.0 ist ein neues Modewort geboren. Es steht für allumfassende Information im Internet - als Konsument wie Produzent. Die erhoffte Weltverbesserung wird es allerdings kaum bringen.
Neulich konnte, wer wollte, im Internet etwas über die Fastenversuche von goestern.de anlässlich des 70. Geburtstags seiner Schwiegermutter erfahren: »Alle gucken mich groß an. Wie jetzt? Du willst keinen Kuchen essen? Die Schwiegermutter guckt entrüstet ...« Zur gleichen Zeit macht sich bildblog.de darüber lustig, wie das von ihm scharf beobachtete Blatt zwischen Kampagnen pro und kontra Klimaschutz herumschwankt. Und Horst Schlämmer, die Satirefigur von H. P. Kerkeling, die in seinem Blog seit Wochen über Erlebnisse mit der Fahrschule berichtet und dabei »mit fast herausfallendem Gebiss« vor allem den Volkswagen lobt, wie die Bloggergemeinde schnell herausfand, verteidigt das Wolfsburger Sponsoring mit ihrem miesen Gehalt als stellvertretender Chefredakteur des Grevenbroicher Tageblatts.

Kommentierte Kommentare
All das und noch viel mehr steht in Weblogs oder kurz Blogs, wie man eine Art Tagebuch nennt, das im Internet zur allgemeinen Kenntnisnahme veröffentlicht wird. Blogs gibt es mittlerweile zu fast jedem erdenklichen Thema. Sie können ziemlich belanglos sein - etwa wenn jemand ganz profan seinen Tagesablauf schildert -, aber andere solcher Berichte verraten vielleicht darüber hinaus ein wenig Reflexion über das Leben, Witz und Selbstironie. Andere Blogger beschäftigen sich mit dem Weltgeschehen, verweisen über Links auf interessante Nachrichten, kommentieren diese oder geben sonstwie ihre Meinung kund - mitunter in seitenlangen Analysen und wortgewaltigen Abrechnungen. In einigen solcher Blogs findet man bisweilen tiefgründige Analysen und reichhaltiges Tatsachenmaterial.
Dazu gehören nachdenksei- ten.de, ein Blog, der mit fundierten Hintergrundinformationen vor allem zu Politik und Wirtschaft eine Gegengewicht zum medialen Mainstream herstellen will und zum Teil prominente Autoren hat, oder die Net-Zeitung »Readers Edition«, die schon äußerlich fast wie eine Zeitung aussieht und auf eine gewisse Qualität ihrer Beiträge Wert legt, wofür sie geeignete Reporter sucht; 20 Millionen sollen es einmal sein. Viele Blogs beschäftigen sich für eine mehr oder minder überschaubare Surfergemeinde mit speziellen Themen, oft das Internet und die Blogosphäre selbst betreffend, oft zu anderen technischen Fragen, aber auch mit Hobbys, Trends in der Musikszene, Gesundheitsproblemen, mit Kochrezepten, Reisetipps, Erfahrungsberichten aus Haushalt und Garten. Sehr bekannt auch lawblog.de, der täglich einige tausendmal angeklickt wird und über neue Gerichtsurteile und viele spezielle Rechtsfragen informiert.
Weltweit rechnet man inzwischen mit mehr als 50 Millionen Blogs; in Deutschland sollen es bisher über 400 000 sein, wobei die Zahl jener, die tatsächlich regelmäßig geführt werden, auf etwa zwei Prozent geschätzt wird; die anderen gelten als virtuelle »Karteileichen«. Besonders beliebt ist das Bloggen unter jungen Leuten; etwa ein Drittel der Blogger ist zwischen 20 und 30 Jahre alt, während die über 50-Jährigen knapp über ein Prozent kommen. Jeder dritte Blogger ist männlich.
Einen Blog kann heute jeder ins Internet stellen, der über einen Computer und einen Telefonanschluss verfügt. Im Netz findet er Portale, die ihm dabei Hilfe geben, oft auch anbieten, in der Regel kostenlos unter ihrem Dach zu bloggen. Schnelle Breitbandzugänge und Flatrates halten auch die Telefonkosten niedrig. Schwieriger ist es schon, mit einem Blog Aufmerksamkeit zu gewinnen. Dabei können die großen Suchmaschinen helfen, die alle Bewegungen im Netz, auch neue Blogs, registrieren. Sie ordnen die Blogs in der Regel nach der Häufigkeit von Aktualisierungen und Zugriffen anderer Internetnutzer.
Ein wesentliches Merkmal der Blogs ist die Möglichkeit, sie unmittelbar zu kommentieren. Dadurch kann bei allgemein interessierenden Themen eine rege Debatte zustande kommen, denn auch die Kommentare werden ihrerseits wieder kommentiert. Solche Debatten sind unreglementiert und unzensiert, jeder kann hier im Prinzip seine Meinung sagen, und oft gehen die Blogger dabei nicht zimperlich miteinander um. Gerade diese Eigenschaft des Web 2.0 ist es, die manche Enthusiasten nicht nur von einer »Demokratisierung« des Internet sprechen lässt, sondern bei manchem sogar die Hoffnung nährt, über solch allumfassende Information und Kommunikation die Welt verbessern zu können. Tatsächlich ist es heute schwerer, Informationen zu verschleiern oder ausschließlich in einem bestimmten Sinne zu interpretieren, was vor allem für Länder mit eingeschränkter Pressefreiheit erhebliche Bedeutung hat, aber nicht nur für diese.
Beispielsweise gibt es »Watchblogs«, die die Medien beobachten und Fehler und Ungereimtheiten gnadenlos auflisten. Am bekanntesten ist der schon genannte bildblog.de, den täglich auch einige Tausend Nutzer anklicken und der im Springer-Haus immer wieder zu säuerlichen Mienen führt. Auch der »Spiegel« und andere Medien stehen inzwischen unter Beobachtung. Das Gleiche gilt für Wirtschaftsunternehmen, vor allem solche, die Massenprodukte herstellen. Kommt etwas neu auf den Markt, wird es sofort im Netz bewertet, werden Erfahrungen ausgetauscht und Empfehlungen gegeben - oder auch nicht. Große Konzerne nehmen solche Signale nach anfänglicher Ignoranz inzwischen sensibel auf, hängt doch davon nicht unwesentlich ihr Verkaufserfolg ab.

Ordnen und manipulieren
Die hinter solchen Vorgängen vermutete Herrschaft der Masse hat auch dazu geführt, den fast vergessenen Begriff des »Volkskorrespondenten« wieder aufleben zu lassen, der heute allerdings lieber als »Bürgerjournalist« bezeichnet wird. Gemeint ist mit dem einen wie dem anderen ein Modell, bei dem die Information »vom Volke ausgeht« und dem Volk zugleich ungefiltert zugänglich ist - so etwas wie ein »virtueller« Volkskorrespondent. Erinnert man sich aber daran, dass der Volkskorrespondent auf Lenins einstige Kampfzeitung »Iskra«, einen »kollektiven Agitator, Propagandisten und Organisator« zurückgeht, so wird schon daran die Problematik eines solchen Konzepts deutlich. Tatsächlich ist es inzwischen eine gesicherte Erkenntnis der Informationswissenschaft, dass die verfügbare Informationsmenge nicht identisch mit tatsächlicher Informiertheit ist. Um Information nutzbar zu machen, bedarf es ihrer Strukturierung und Ordnung, schon damit das Gewünschte überhaupt auffindbar wird.
Solche Ordnungsprinzipien sind längst formuliert, und inzwischen gibt es »Ordner«, die sie nutzen - wie die schon genannten Suchmaschinen. Doch mit der Herstellung einer Ordnung geht zugleich die Spontaneität verloren, und - noch gravierender - es tritt ein »Ordner« auf, der eigenen Prinzipien folgt. Von daher ist es zu Beeinflussung und gar Manipulation nicht weit; selbst eine nach streng statistischen Vorgaben arbeitende Suchmaschine ist davon nicht frei. Die Nutzer des Internets nehmen solche Hilfsmittel gern an - schon weil sie sonst rettungslos in der Datenmasse versinken würden. Das geht so weit, dass viele Blogger sich in Foren, Chats oder »Communities« zusammenfinden, für die sie registriert sind, also einer Art Freundeskreis, in den man sich mit seinem »Profil« (persönlichen Daten) einführt und wo man in der Regel immer wieder auf die gleichen Diskutanten trifft.
An die Suche der Internetgemeinde nach Orientierung knüpfen Medien wie Wirtschaft gern an, Erstere sehen sich, wie die »Zeit« einmal schrieb, in einer »Leuchtturm- oder Türwächterfunktion«. Wenn alles davonschwimme, brauche das Publikum Orientierung, Sachverstand, geduldiges Argumentieren. So sind bei vielen größeren Zeitungen inzwischen online-Redaktionen entstanden, über die nicht nur Inhalte der Printausgabe verbreitet werden, sondern viel mehr: aktuelle Nachrichten, Veranstaltungshinweise, auch Blogs ihrer Redakteure und natürlich Werbung.
Ziel ist, wie eine einschlägige Diskussionsrunde vor einigen Tagen in Berlin feststellte, »Zukunftssicherung« für die Medien. »Es geht um Leser, die die Zeitung nie abonnieren würden«, so Hans-Jürgen Jacobs, Chefredakteur von »Süddeutsche Zeitung online«. Gleichzeitig will man aber auch vom Meinungsaustausch der Blogger profitieren - sei es durch zusätzliche Nachrichten, durch andere Sichten, durch das sofortige Bild von der Wirkung einzelner Beiträge. Schon nutzt die »Bild«-Zeitung ihre »Leserreporter« als preiswerte Quellen und stellt dafür sogar Ausweise aus.

Umsätze in Milliardenhöhe
Noch weiter gehen die Hoffnungen der Wirtschaft auf Profit aus dem Web 2.0. Laut »Tagesspiegel« sieht Andrea Schulz, Geschäftsführerin der Bremer Werbeagentur Artundweise, Blogs, Podcasts, Communities als wertvolle Hilfen im Kampf der 760 000 in Deutschland eingeführten Produktnamen um die Aufmerksamkeit der Kunden. 12,4 Millionen Bundesbürger nutzten bereits solche Formen, fand die Unternehmensberatung Booz Allen Hamilton heraus, und - was noch wichtiger ist - die Hälfte dieser Nutzer verlasse sich bei Kaufentscheidungen auf Beurteilungen in Web-2.0-Foren.
Der Gesamtumsatz bei Internetgeschäften, kostenpflichtigen Diensten und Werbung belief sich 2005 nach den Berechnungen der Unternehmensberater auf rund 17,1 Milliarden Euro und soll bis 2008 auf knapp 40 Milliarden steigen. Kein Wunder, dass die erfolgreichsten Plattformen wie die Video-Webseiten YouTube und MySpace für riesige Summen aufgekauft wurden - erstere von Google für 1,65 Milliarden Dollar, letztere von Murdoch für 580 Millionen Dollar. Und in Deutschland war dem Holtzbrinck-Verlag die Studenten-Plattform StudiVZ mit 1,5 Millionen Mitgliedern immerhin 50 Millionen Euro wert.
Die kommerzielle Vereinnahmung des Web 2.0 ist also in vollem Gange. Was Geld zu bringen verspricht, findet schnell Interessenten, die die neuen Möglichkeiten nutzen - und zwar in ihrem Sinne. Die Bloggergemeinde wird dabei weiter bestehen und sicher auch noch wachsen. Dass gerade sie aber in irgendeiner Weise die Welt verändern könnte, ist eine zwar sympathische, letztlich aber vergebliche Hoffnung.
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