Der Dreck verschwand, die Kreativen kamen

Unterwegs in Essen, das 2017 den Titel »Grüne Hauptstadt Europas« trägt.

  • Robert B. Fishman
  • Lesedauer: 7 Min.

Auf Abraumhalden wachsen Wälder, alte Werksbahntrassen werden Fahrradwege, Abwasserkanäle lebendige Flüsse. Auf der Ruhr, die dem Kohlen- und Stahlrevier den Namen gab, leben Kormorane, Wildgänse und reichlich anderes Getier.

»Der Eindruck täuscht. Die Stadt macht Grünflächen platt. Bauen bringt Profit«, schimpft Hubertus Ahlers über die »Grüne Hauptstadt Europas«, während er Blüten von einem seiner vielen Beete pflückt. Der Mann muss es wissen. Über 15 Jahre kämpfte er gegen die Kommune und einen Investor, um 28 000 Quadratmeter in ein blühendes Paradies zu verwandeln zu können.

»Neue Urbane Landwirtschaft« nennen Ahlers und seine Mitstreiter ihre Gartenlandschaft. Auf einem Hügel über dem Essener Arbeiterviertel Katernberg bauen sie Kräuter, essbare Blüten, Lauch, Kartoffeln und anderes an. Wo die Bewohner ihre Heimat einst am »Gestank nach faulen Eiern« erkannten, summen heute die Bienen. Der Wind wispert in den Kronen der Obstbäume. Im Gewächshaus reifen Tomaten, auf den Feldern Salate, Pastinaken, Bohnen und Erbsen, die sie ihren Kunden in Gemüsekisten auch nach Hause liefern. Um das Gelände für sein soziales Gartenbauprojekt zu sichern, gründete Ahlers die gemeinnützige Bonnekamp-Stiftung. Ihr Kapital: das Grundstück. Seit es der Stiftung gehört, kann es niemand mehr enteignen und für andere Zwecke nutzen.

Als die Zechen, Kokereien und Stahlküchen Arbeitskräfte brauchten, holten sie »Gastarbeiter« aus Südeuropa und der Türkei. Die Betriebe sind längst verschwunden, die Arbeiter blieben. Das Ruhrgebiet verkam mit dem Ende der Kohle- und Stahlindustrie zum Armenhaus Westdeutschlands.

Tatsächlich stehen heruntergekommene Wohnungen leer. Für nötige Renovierungen fehlt den meisten Eigentümern das Interesse - und oft das Geld. Einer, der es hat, ist Reinhard Wiesemann. Als Jugendlicher gründete der Wuppertaler eine IT-Firma und verkaufte das Unternehmen schließlich mit einem satten Gewinn. Über Zahlen spricht der ruhige, freundliche Mittfünfziger »lieber nicht«.

Anfang der 2000er erwarb er ein ehemaliges Franziskanerkloster in der nördlichen Essener Innenstadt, das er zum Künstler- und Kreativzentrum umbaute. Auf mehr als 4000 Quadratmetern schaffen Maler, Musiker und viele andere. Wer »etwas Kreatives, Interessantes und Legales« macht, darf die Räume des »Unperfekthauses« kostenlos nutzen.

»Meine Eltern haben mir alle Freiheiten gelassen«, erinnert sich Technikfreak Wiesemann. »Ich durfte basteln und ausprobieren.« Als Zwölfjähriger besuchte er Volkshochschulkurse in Elektrotechnik, schraubte im Keller an den ersten Rechnern und holte mit 17 beim europäischen Wettbewerb »Jugend forscht« den zweiten Platz. Mit dem »Unperfekthaus« will er etwas zurückgeben.

Als seine Firma auf 50 feste Mitarbeiter gewachsen war, verkaufte er den Laden und gründete später das Linux-Hotel am Essener Stadtrand. Dort besuchen Programmierer und Nutzer Schulungen und entwickeln das freie Betriebssystem weiter. »Selbstverständlich möchten wir Geld verdienen«, heißt es auf der Internetseite. »Eine Aktivität, die sich wirtschaftlich nicht trägt, ist instabil, und/oder sie ist abgekoppelt von den Bedürfnissen der Menschen.« Dennoch glauben die Macher, dass man »Geld verdienen, anderen nützlich sein und dabei Freude haben kann«.

Die Marktwirtschaft, meint Wiesemann, »ist wahrscheinlich das beste System, das wir je hatten, aber sie hinterlässt Lücken«. Einige davon möchte er füllen. Es gebe so viele Menschen, die etwas Sinnvolles tun wollen. Dafür stellt der Umtriebige Räume.

Auf den Namen für das Kreativzentrum brachte ihn ein Roman von Michael Ende. Das Haus sei nie fertig. »Wenn etwas zu perfekt ist, sind wir nur noch Zuschauer.« Er sucht neue Wege, die Welt etwas besser zu machen. Sechs Häuser hat er inzwischen in der nördlichen Innenstadt gekauft. Eines davon schenkte der IT-Spezialist der Stadt, damit sie dort ein Bürgerzentrum eröffnet. Ein weiteres wurde zum Mehrgenerationenhaus. Dort will Wiesemann selbst alt werden. WG-Zimmer und Wohnungen vermietet er für 15 Euro pro Quadratmeter. Doch für jeden Quadratmeter Wohnraum gibt es für die Bewohner die Hälfte an Gemeinschaftsfläche dazu: Sauna, Wellnessraum, ein riesiges Wohnzimmer mit Dachterrasse und mehr. Getränke und einiges andere sind in der Miete enthalten. Anders als die meisten Mehrgenerationenhäuser zieht Wiesemanns Projekt sehr viele junge Leute an. Die moderne, minimalistisch-stylische Einrichtung trägt dazu bei, ebenso freies WLAN, ein Coworking-Raum und Platz für Wohngemeinschaften. Ins Erdgeschoss sind ein Café und ein Trödelladen eingezogen. Hier kann jeder gebrauchte Sachen verkaufen.

Damit sich die Welten der Kreativen und der Geschäftsleute begegnen, hat er dem »Unperfekthaus« ein Business-Hotel zur Seite gestellt. Dessen Gäste frühstücken wie die Künstler im Restaurant des »Unperfekthauses«. Dort bekommt man für 34,90 Euro eine Tagesflat: Essen und Trinken so viel man will, und für das Nickerchen danach ist die Nutzung des Ruheraums im Preis enthalten.

Wiesemann ist davon überzeugt, dass sich Eigennutz und Altruismus ergänzen. Das Kreativ- und das Mehrgenerationenhaus steigern auch seine Lebensqualität: »Wenn ich mein Wohnumfeld verbessere, erhöhe ich auch den Wert meiner Häuser«, schiebt er - jetzt ganz Geschäftsmann - nach und erzählt, wie er den Pfarrer der Kreuzeskirche nebenan für eine weitere Idee gewonnen hat: Sonntags gehört das Gotteshaus den Gläubigen. Werktags füllen Tagungen, Lesungen, Konzerte und »gerne auch Partys« die leere Kirche. Der Altar auf Rollen wird dafür in einen Nebenraum geschoben. In der ehemaligen Sakristei haben sie eine Bar eingebaut. Vermuten würde man solche Inseln der Kreativität eher jenseits der Ruhrgebietsautobahn A 40, die die Stadt in den armen Norden und den reicheren, grünen Süden teilt.

In den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts ließ sich der Industrielle Alfred Krupp in den Wäldern am Ufer der Ruhr einen 8100 Quadratmeter großen Palast mit 269 Räumen bauen: die Villa Hügel - heute Museum, Veranstaltungsort und Sitz der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung. Der Unternehmer entfloh so der dicken Luft im Essener Norden. Zurück blieben seine Arbeiter und die vieler anderer stinkender Industriebetriebe. Sie konnten sich einen Umzug in den Süden nicht leisten.

Dort entstanden grüne Villenviertel mit großzügigen Gründerzeitbauten und bürgerliche Wohngebiete wie Rüttenscheid. Hier eröffnen nun junge Kreative in Bauten der vorletzten Jahrhundertwende individuelle Läden: Fotostudios, Cafés, eine Kaffeerösterei, einen Barbiersalon. In ihrer Hutmanufaktur verkauft die Modistenmeisterin Ulrike Strelow festliche Damenhüte und topmoderne Hipster-Kopfbedeckungen. Strehlow, eine jugendliche, fröhliche Frau um die 40 mit einem strahlenden Lächeln, lebt gerne in Rüttenscheid. »Hier wohnen viele Familien mit Kindern.« Alles könne sie zu Fuß erreichen. Ihre Tochter saust mit dem Tretroller zur Schule. Sie mag die kreative Atmosphäre im Viertel, die kleinen Läden im überschaubaren Kiez. In den Essener Norden fährt sie nie.

Tatsächlich scheint der Essener Süden heller, sorgloser, fröhlicher, rheinischer als die Arbeiterquartiere im Norden. Am Isenbergplatz scharen sich Kneipen um einen von uralten Bäumen beschatteten Spielplatz, auf dem die Kinder toben, während die Mütter in einem Café ihren Latte Macchiato trinken.

Keine fünf Kilometer sind es von hier bis zur inzwischen wieder grünen Ruhr, wo André Zölzer Kanu- und Kajaktouren anbietet. In Sichtweite der Autobahn und eines stillgelegten Förderturms blühen Teichrosen auf dem Wasser. Schwarze Kormorane schnappen sich Fische aus dem Fluss, auf dem Gänse ihre Runden drehen. »Seefrösche, Schildkröten, Erdkröten, Flusskrebse, Nutrias«, zählt Zölzer die Tiere auf, die sich angesiedelt haben, seit die Ruhr wieder einigermaßen sauber ist. »Im Wasser leben Hechte, Welse und auch wieder viele Döbel.« Die »Forelle der Armen« habe es hier früher in rauen Mengen gegeben. Wegen der Wasserverschmutzung war sie verschwunden. Das nördliche Ufer steht inzwischen unter Naturschutz. Selbst Kanus, die »rückstandsfrei« übers Wasser gleiten, müssen sich von den brütenden Vögeln fernhalten. Seine Touren erlebt der 43-Jährige als Urlaub vor der Haustür.

Auch wenn viele Essener von der »Grünen Hauptstadt Europas 2017« kaum etwas mitbekommen und manche beklagen, dass die Stadt das Geld vor allem für große Spektakel ausgebe: Zumindest hier, wo die Ruhr durch Wiesen und Wäldern plätschert und man im Fluss wieder baden kann, hat sich Essen den Titel verdient.

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