Mehr Mut zum Experiment

Kinder lernen am besten in sensiblen Phasen. Sie dabei fördernd zu begleiten, sei die hohe Kunst der Pädagogik, meint der Philosoph Karl-Friedrich Wessel

  • Lesedauer: 5 Min.

Herr Wessel, in Ihren Büchern und Artikeln bescheinigen Sie dem Menschen die Fähigkeit zum lebenslangen Lernen. Zugleich aber behaupten Sie, dass es sensible Phasen der Entwicklung bzw. des Lernens gebe. Ist das nicht ein Widerspruch?

Nicht unbedingt. Es hängt vielmehr davon ab, was man unter einer sensiblen Phase versteht. Gewöhnlich wird diese definiert als ein relativ eng begrenzter Zeitabschnitt in der Entwicklung eines Individuums, in dem für den Erwerb bestimmter Kompetenzen und Fähigkeiten besonders günstige Bedingungen bestehen. Das betrifft zum Beispiel die Sprache, das Zahlenverständnis oder die dreidimensionale räumliche Wahrnehmung. Die Ursachen dafür werden zumeist im biotischen Bereich gesucht. Und das finde ich zu eng. Viel wichtiger in der Entwicklung eines Individuums sind die psychosozialen Einflüsse auf die Herausbildung sensibler Phasen. Und die können bis ins hohe Alter erhalten bleiben. Natürlich wäre es absurd zu leugnen, dass für manche sensible Phase ein relativ enges Zeitfenster besteht, bedingt unter anderem durch die Wirkung von Hormonen. Die meisten sensiblen Phasen jedoch werden von Menschen gleichsam selbst erzeugt.

Könnten Sie das bitte näher erläutern, vielleicht an einem Beispiel?

Nehmen wir kleine Kinder. Ab einem bestimmten Alter verspüren diese das Bedürfnis, etwas zu lernen, was sie zuvor kaum interessiert hat, etwa Buchstaben oder Zahlen. In ihrem Gehirn öffnet sich eine Art kognitives Fenster. Man könnte auch sagen, sie generieren eine sensible Phase, die ihnen effektive Bedingungen für das Lernen ermöglicht, zum Beispiel des Lesens, Schreibens und Rechnens. Reagieren Eltern oder Erzieher auf dieses Bedürfnis des Kindes nicht, bleiben wichtige kognitive Ressourcen ungenutzt. Im Gegenzug werden Ressourcen verschwendet, wenn Eltern aus übersteigertem Ehrgeiz ihre Sprösslinge zu irgendwelchen Frühförderkursen schicken. Die Kinder können dann vielleicht schon mit drei auf Englisch bis zwanzig zählen, einen kognitiven Gewinn bringt ein solcher pädagogischer Kraftakt jedoch nicht.

Laut dem Schweizer Psychologen Jean Piaget durchläuft jedes Kind in seiner kognitiven Entwicklung vier Stadien, angefangen vom Stadium der sensomotorischen bis hin zum Stadium der formal-operationalen Intelligenz. Solche sensiblen Phasen sind aber doch streng fixiert, oder?

Ich glaube, Piaget wird häufig missverstanden. Was er bei Versuchen tatsächlich festgestellt hat, ist, dass die vier Stadien in der Regel aufeinander folgen. Den Zeithorizont hingegen lässt er großenteils unbestimmt. Für den Erwerb der konkret-operationalen Intelligenz zum Beispiel, in dem das logische Denken in Bezug auf konkrete Sachverhalte gelernt wird, gibt er eine Altersspanne von 7 bis 12 Jahren an. Nur so lassen sich sensible Phasen überhaupt sinnvoll definieren. Denn bei manchen Kindern beginnen sie früher, bei anderen später. Dazwischen liegen oftmals Jahre. Leider trägt unser Schulsystem dem bis heute nur unzureichend Rechnung. Unabhängig von ihrer kognitiven Reife werden Kinder mit sechs Jahren eingeschult.

Das ist ohne Zweifel praktisch. Zudem sehe sich im Moment keine Möglichkeit, wie man das anders machen könnte.

Eine solche Möglichkeit gibt es. Dabei werden Kinder nicht mehr stur nach Geburtsdatum eingeschult, sondern nach ihrer im Kindergarten von Ärzten und Erziehern ermittelten körperlichen und kognitiven Reife. Eine erste Klasse könnte sich dann, und das nicht nur in Ausnahmefällen, aus Fünf-, Sechs- und Siebenjährigen zusammensetzen. Das böte für sogenannte Früh- und Spätentwickler beste Bedingungen für die Entfaltung ihrer kognitiven Potenziale. Weder müssten sich die einen im Unterricht langweilen, noch wären die anderen permanent überfordert. Jeder würde sozusagen in seiner eigenen sensiblen Phase lernen. Zum Vorteil der Schüler sollten Bildungspolitiker hier künftig etwas experimentierfreudiger sein.

Kommen wir noch einmal zurück auf Ihr Konzept vom lebenslangen Lernen. Sind ältere Menschen ähnlich wie Kinder in der Lage, sich ihre eigenen sensiblen Phasen zu generieren?

Ich meine ja. Das Gehirn ist auch im Alter sehr flexibel und damit fähig, effektiv zu lernen. Allerdings funktioniert das nur, wenn der Mensch sich im Alter entwickelt, oder besser gesagt, wenn er sich selbst um eine Entwicklung bemüht. Zum Beispiel indem er seine Aufmerksamkeit bewusst neuen Dingen zuwendet. Das kann Politik, Literatur oder Wissenschaft sein. Auch hier wird, wie ich es ausdrücken möchte, eine sensible Phase eröffnet, die es Menschen nicht nur erlaubt, altersbedingte biotische Abbauprozesse zu kompensieren, sondern auch verschüttet geglaubte Kompetenzen neu zu beleben.

Im Grunde ist Ihr Modell der sensiblen Phasen weit entfernt von starren Zwängen, denen Menschen in ihrer kognitiven Entwicklung unterworfen sind und die, wenn man sie ignoriert, nachteilige Folgen für das Individuum haben können.

Ganz so streng würde ich das nicht sehen. Natürlich gibt es auch biotisch bedingte sensible Phasen, vor allem in der frühen Kindheit, die für das weitere Leben eines Menschen von prägender Bedeutung sind. Als Beispiel sei hier auf die Moralentwicklung verwiesen. Sie beginnt in der sogenannten Märchenphase, in der Kinder anhand von Märchen zunächst auf ziemlich grobe Weise erfahren, was gut und böse ist. Später wird diese Wahrnehmung natürlich verfeinert. Findet eine frühe Sensibilisierung in der Moralentwicklung allerdings nicht statt, könnte dies, so meine Befürchtung, zu einer irreversiblen Beeinträchtigung der moralischen Kompetenz führen. Dass auch eine solche sensible Phase die aktive Beteiligung des Individuums voraussetzt, erkennt man daran, dass Märchen auf Kinder bis heute eine unwiderstehliche Anziehung ausüben. Leider zeigen Eltern hierfür nicht immer das nötige Verständnis.

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