nd-aktuell.de / 02.10.2017 / Politik / Seite 5

»Wäre das linke Politik?«

Nach der Bundestagswahl diskutiert die Linkspartei über den Umgang mit der rechtsradikalen AfD, über Gerechtigkeit und die Flüchtlingspolitik – und über Oskar Lafontaine. Ein Überblick

Tom Strohschneider

Wer in den Tagen seit der Wahl mit führenden Leuten aus der Linkspartei sprach, konnte unter anderem erfahren, wie sich die Genossen auf eine oppositionelle SPD vorbereiten. Oder wie sie sich über einen kleinen Mitgliederboom freuen. Und was über die regionale Verteilung der neu gewählten Abgeordneten des Bundestags gedacht wird.

Vor allem aber bekam man eine Menge genervte Reaktionen über Oskar Lafontaine zu hören. Der hatte kurz nach dem Wahlsonntag und auch mit Blick auf die Linkspartei erklärt, diese würde bei ihren »Antworten auf die weltweite Flüchtlingsproblematik das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit außer Kraft« setzen. Die meisten Linkspolitiker brachten das auch noch mit einer Reaktion von Sahra Wagenknecht auf das Abschneiden der rechtsradikalen AfD zusammen. Die Fraktionschefin hatte die Meinung kundgetan, beim Flüchtlingsthema habe die Linkspartei »bestimmte Probleme ausgeklammert, in der Sorge, dass man damit Ressentiments schürt«. Damit habe man es »am Ende« der AfD überlassen, »bestimmte Dinge anzusprechen, von denen die Menschen einfach erleben, dass sie so sind«.

Enttäuschung und Empörung

Flügelübergreifend wird seither in einer Mischung aus Enttäuschung, Empörung und Verwunderung auf die Äußerungen aus dem Saarland reagiert, die als Forderung nach einer Kursänderung in der Flüchtlingspolitik verstanden wurden. Und das ist sehr zurückhaltend formuliert. Langjährige Weggefährten wie Gregor Gysi warfen ihr politisches Gewicht in die Waagschale. Der Präsident der Europäischen Linken warnte gar, »beschlösse eine Mehrheit der Partei, was ich mir nicht vorstellen will und kann, eine solche Änderung ihrer Politik in der Flüchtlingsfrage, wäre es auf jeden Fall nicht mehr meine«. Und auch in der Berliner Parteiführung wurde vehement gegen eine Abkehr vom Kurs der unkonditionierten Solidarität mit Geflüchteten argumentiert. Ausdrücklich wird zudem immer wieder auf einen Beschluss vom Februar 2016 über den Umgang mit der AfD verwiesen - noch am Tag nach der Wahl wurde dieser Beschluss bekräftigt.

Personelle Reibereien

Die Konflikte, die hier nicht zum ersten Mal zum Ausdruck kommen, liegen auf mehreren Ebenen. Dass Lafontaine seine Wortmeldung mit der Behauptung garnierte, »die beiden Parteivorsitzenden finden selbst wenig Zustimmung bei den Wählern«, verweist auf weiterhin bestehende personelle Differenzen, die viel mit der alte Konfliktlogik dieser in Strömungen geborenen Partei zu tun hat. Gysi wies solche Vorhaltungen zurück und kritisierte den Versuch, Wahlergebnisse gegeneinander in Stellung zu bringen. Weder sei es richtig, »das Ergebnis von 2013 herunterzureden und das jetzige Ergebnis überzubewerten«, noch gebe es einen Grund für Schuldzuweisungen an die beiden Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger. Gysi verband dies mit der kleinen, aber treffsicheren Nebenbemerkung, er sehe schon deshalb keinen Anlass dazu, »weil sie einen wichtigen Beitrag zur Stabilität der Partei in der gesamten Zeit geleistet haben«. Einen Beitrag, den andere, so musste man das verstehen, nicht leisten würden.

Die soziale Basis der Linkspartei

Eine zweite Ebene der Auseinandersetzung betrifft die Wählerschaft der Linkspartei - es geht um die Einschätzung eines schon länger laufenden Trends hin zu mehr Zustimmung unter Jüngeren, in größeren Städten, in akademischen Milieus, bei Akteuren der Zivilgesellschaft. »Viele kommen als Reaktion auf die Rechten, auf ihren Rassismus und auf ihr anti-soziales Programm, auf die eigenen Erfahrungen eines prekären Alltags«, sagt Bernd Riexinger in seiner Antwort auf Lafontaine. »Es wird eine der wichtigsten Aufgaben sein, sie in der Partei willkommen zu heißen« - und dabei müsse das Motto gelten: »Wir sind nicht mehr dieselben, weil ihr jetzt hier seid.«

Wer immer sich äußerte in den vergangenen Tagen, bekräftigte dies und äußerte die Befürchtung, solche »Einzelmeinungen« wie von Lafontaine könnten dazu führen, dass sich neue Anhänger umgehend wieder verabschieden. Mit einer Änderung des Kurses in der Flüchtlingsfrage, so warnte unter anderem der Bundessprecher der Linksjugend, Jakob Migenda, »werden wir keine Menschen erreichen, die für uns vorerst sowieso verloren sind und nur wenig Schwankende gewinnen«.

Gysi äußerte sich ähnlich: »Wechselten wir in dieser Frage unsere Politik grundsätzlich, dann verlören wir viele derjenigen, die uns 2017 gewählt haben, und gewönnen nur wenige hinzu.« Wobei durchaus Klarheit darüber herrscht, dass die über einen längeren Zeitraum ablaufende Veränderung in der Mitgliedschaft und bei den Wählern der Linkspartei »nie einfach« ist, wie es Riexinger formulierte. Solche Generationenumbrüche »erfolgreich zu gestalten, ist immer eine Schicksalsfrage für linke Parteien gewesen«.

Lafontaine hatte die zurückgehende Unterstützung bei Arbeitern und Erwerbslosen auf »die verfehlte ›Flüchtlingspolitik‹« zurückgeführt, wobei seine Distanz zu dem Begriff schon durch die Benutzung von Anführungszeichen demonstriert wurde. Damit ist nicht zuletzt die Frage der sozialen Basis einer linken Partei angesprochen. Dass die Linkspartei in »der Arbeiterklasse« verliert, so wies Parteichef Riexinger Lafontaines Einschätzung in dieser Allgemeinheit zurück, treffe gar nicht zu. »Wir sind durchaus stark bei denjenigen, die vom wachsenden Reichtum der letzten Jahre kaum etwas haben. Wir gewinnen an Zuspruch bei jungen Lohnabhängigen und bei den Beschäftigtengruppen in der Pflege, in Kitas und neuen Dienstleistungsbranchen, in denen vor allem Frauen arbeiten«. Auch bei Angestellten, Gewerkschaftern und Gewerkschafterinnen habe man zugelegt.

Dass es die »zum Teil deutlichen Verluste bei Erwerbslosen« gibt, räumt Riexinger ein und findet dies auch »beunruhigend«. Aber gerade hier sieht der Gewerkschafter einen langen, steinigen Weg der Wiedergewinnung von Vertrauen - durch Arbeit vor Ort, als sich »kümmernde und Widerstand organisierende Partei«. Abkürzungen, sagt Riexinger, »gibt es leider nicht«. Die stellvertretende Parteichefin und hessische Fraktionsvorsitzende Janine Wissler hat dies mit dem Wiesbadener IG-Metall-Gewerkschafter Axel Gerntke so formuliert: »Es erschließt sich uns nicht, warum wir durch Änderung unserer Flüchtlingspolitik mehr Arbeiter erreichen sollten - davon abgesehen, dass es inhaltlich falsch wäre.« Denn, und hier ist ein entscheidender Punkt berührt: »Gerade in den Arbeiterberufen und im Niedriglohnbereich haben viele Menschen eine eigene Migrationsgeschichte. Warum sollten uns diese Menschen verstärkt wählen, wenn wir unsere Flüchtlingspolitik ändern?«

Ähnlich sieht es Jakob Migenda von der Linksjugend, der empfiehlt, die Verankerung etwa in »antirassistischen Bewegungen« zu stärken, um sich als »Sprachrohr für ein - zunehmend prekäres! - städtisches, progressives, akademisches Milieu« weiterzuentwickeln. Ein zweites Standbein soll die Linkspartei »vor allem in den Dienstleistungsgewerkschaften« bilden, »um ein Sprachrohr gegen die fortschreitende Prekarisierung zu sein und Klassenmacht politisch und gewerkschaftlich zu organisieren«.

Wenn es hier nicht zuletzt um ein Milieu geht, »das sich von den Grünen immer weiter entfremdet«, steckt dahinter eine womöglich größere gesellschaftspolitische Verschiebung, die durch die Anbahnung einer Jamaika-Koalition noch befördert werden dürfte. »Wir sind grüner geworden«, hört man in der Berliner Parteizentrale. Gemeint ist damit aber gerade nicht, sich der gleichnamigen Partei angenähert zu haben - sondern die von dieser mehr und mehr in Distanz gedrängten früheren Anhänger nun für die Linkspartei zu interessieren.

Darauf wird durchaus auch strategisch gesetzt, was nicht unbedingt in Widerspruch zu einer eher traditionellen klassenpolitischen Basisorientierung stehen müsste. Denn wenn die seit Jahren geführte linke Rede von den Mitte-Unten-Bündnissen eine politische Nagelprobe bestehen müsste, dann wäre dies doch die Probe darauf, wie sich stärker kulturell geprägte politische Werte und deutlicher sozial konnotierte Sichtweisen verbinden lassen.

Deutungen sozialer Gerechtigkeit

Eine dritte Ebene des hier besprochenen Konflikts betrifft so etwas wie die Räumlichkeit linken Denkens. Die sächsische Linkspolitikerin Jule Nagel warnte davor, die Frage nach Solidarität oder Gerechtigkeit »auf den eindimensionalen Konflikt zwischen Kapital und Arbeit im abgeschotteten Nationalstaat zurückzuwerfen«. Eine »zeitgemäße sozialistische Politik muss nationalstaatliche Grenzen« infrage stellen, so Nagel. Gysi formulierte es so: »Die soziale Frage steht plötzlich nicht mehr nur national, sondern weltweit.«

Auch der linke Soziologe Stephan Lessenich warnt: »Eine linke Partei darf in ihrer Deutung sozialer Gerechtigkeit jedenfalls auch nicht die Not der einen Menschen gegen die der anderen ausspielen«. Konkret wandte er sich gegen den von Lafontaine aufgemachten Gegensatz von Einheimischen »am unteren Ende der Einkommensskala« und Schutzsuchenden, die es schafften, für ihre Flucht »mehrere Tausend Euro aufzubringen«. Was, so empört sich Lessenich, solle hier suggeriert werden - wenn nicht: »Dass die gar nicht so armen Ausländer den tatsächlich armen Deutschen die Butter vom Brot nehmen«. Hier hatte schon Gysi eine dicke rote Linie gezogen: »Wenn man mehr soziale Gerechtigkeit will, darf man nicht gegen andere Arme, sondern muss man gegen ungerechtfertigten Reichtum kämpfen.«

Praktischer Umgang mit der AfD

Eine vierte Ebene der Diskussion hat mit dem ganz realen Umgang mit der AfD zu tun, deren Vertreter nun mit im Bundestag sitzen - und zwar demokratisch legitimiert. »Dies ändert nichts daran, dass sie eine Gefahr für die Demokratie darstellen und ihrerseits die demokratischen Rechte von Minderheiten bedrohen«, warnt Christine Buchholz. Die Bundestagsabgeordnete ist deshalb auch für eine klare Abgrenzung im Parlamentsbetrieb. Wenn kein AfD-Politiker zum Vizepräsidenten gewählt würde, mache man »die AfD nicht zum Opfer, sondern schwäche sie. Für die harten AfD-Anhänger mag das eine Bestätigung ihrer Selbstwahrnehmung als Opfer sein, für ein weiteres Ausgreifen in die Bevölkerung ist die öffentliche Ächtung als Nazi-Partei oder Halb-Nazi-Partei für die AfD ein großes Problem.«

Buchholz hält es darüber hinaus für notwendig, außerparlamentarisch »klare Kante gegen den Rassismus der AfD« zu zeigen. Dort, auf der Straße und in der Flüchtlingssolidarität, könne »das Klima in der Gesellschaft nach links verschoben« werden. Hier liegt gewissermaßen die fünfte Ebene der Debatte: Was hat der Aufstieg der rechtsradikalen AfD mit dem Scheitern aller bisheriger Bemühungen zu tun, alternative Mehrheiten zur Kanzlerschaft von Angela Merkel zusammenzubringen?

Die linke Demobilisierung

Jede Menge, wenn die Analyse richtig ist, dass es sich hier auch um eine Protestwahl gegen einen politischen Betrieb gehandelt hat, in dem es keine »demokratische Polarisierung« (Jürgen Habermas) mehr gibt - oder einfacher gesagt: Wo es allenfalls um Nuancen der Verwaltung eines immergleichen, als ungerecht und abgehoben empfundenen Status quo des Regierens geht.

Der Wahlkampf, so sagt es der Berliner Staatssekretär Alexander Fischer, sei von »Abwesenheit jeglicher Zukunftsdebatte« gezeichnet gewesen. Der Linksparteipolitiker nennt dies »kein Gespräch, sondern ein Nebeneinander von Monologen, in dem werberisch vor allem um Lautstärke konkurriert wurde«. Was fehlte: ein wenigstens »informelles politisches Lager«, das »mit irgendeiner Veränderungsperspektive mobilisiert hätte«. Man muss ja nicht immer gleich von Rot-Rot-Grün sprechen.

Die Geschichte dieser Parteienarithmetik bleibt auf Bundesebene eine des Scheiterns. Fischer erinnerte daran, dass 1998 SPD, Grüne und damals noch die PDS »den heute geradezu gigantisch anmutenden Anteil von 52,7 Prozent der Zweitstimmen« erzielten. Ab dann ging es abwärts. 2002 waren es nur noch 51,1 Prozent, 2005 noch 51 Prozent, 2009 gerade noch 45,6 Prozent, 2013 nur noch 42,7 Prozent - und 2017 wurde der historische Tiefstand von 38,6 Prozent erreicht. In absoluten Zahlen: »Statt 26 Millionen Zweitstimmen im Jahr 1998 mobilisierte Rot-Rot-Grün im Herbst 2017 nur noch rund 18 Millionen« Wähler.

»Wer von der rechten Mobilisierung redet«, sagt Fischer, dürfe also »von der linken Demobilisierung nicht schweigen«. Der werde man, das ist der ganz verbreitete Tenor in der Linkspartei dieser Tage, nicht durch Versuche beikommen, rechts zu blinken. Das trifft auf die SPD genauso zu wie auf die Grünen. Und es stimmt, ganz egal, ob es um Rot-Rot-Grün oder »nur« um gesellschaftliche Mehrheiten geht.

»Welchen Weg sollen wir beschreiten?«, fragt Gysi von spürbarer Emotionalität getrieben. »Den der CSU? Sollten wir wirklich Obergrenzen fordern, nationalen Egoismus predigen? Wäre das linke Politik?« Es gehe in dieser Frage um viel - um den »sozialen und humanistischen Ansatz« der Partei.