nd-aktuell.de / 04.10.2017 / Politik / Seite 18

Verlass den Gesellschaftskadaver

Mit »Jetzt!« meldet sich das Unsichtbare Komitee zurück und predigt die Unregierbarkeit

Florian Schmid

Vor ein paar Jahren machte das aus Frankreich stammende Unsichtbare Komitee mit seinem anarchistischen Manifest »Der kommende Aufstand« weltweit Furore. Im Jahr 2005 hatte es in den französischen Banlieues gekracht, im Jahr darauf folgten landesweite Unruhen wie die mitunter militanten Jugendproteste. Sie hatten sich erfolgreich gegen das »Erstanstellungsgesetz«, das Unternehmen die »flexible« Anstellung von Berufseinsteigern ermöglichen sollte, zur Wehr gesetzt. Der unter diesem Eindruck erschienene Text wurde damals hierzulande überraschenderweise auch vom konservativen Feuilleton positiv aufgenommen.

Nach dem »Hamburger Aufstand«, wie die Krawalle zum G20-Gipfel mittlerweile oft genannt werden, dürfte sich die Begeisterung der konservativen Presse über das neue Buch des Unsichtbaren Komitees mit dem programmatischen Titel »Jetzt« in Grenzen halten. In dem gut hundertseitigen Manifest geht es vor allem um die Proteste des »langen französischen Frühlings 2016«, wie es in dem Text heißt, als in Frankreich im vergangenen Jahr Tausende Menschen monatelang gegen die Arbeitsrechtsreform protestierten. Die Regierung Macron hat die unpopulären Reformen inzwischen durchgedrückt und gerade nehmen die Proteste gegen den Präsidenten Fahrt auf. Auch insofern ist das Buch von aktuellem Interesse.

»Was im Frühling 2016 in Frankreich stattfand, war keine soziale Bewegung, sondern ein politischer Konflikt, genauso wie 1968 (…) Es könnte gut sein, dass eine Generation unregierbar geworden ist«, heißt es in dem gerade auf deutsch erschienenen Text. Er argumentiert über weite Strecken ebenso abgehoben philosophisch, wie er dann wieder ganz nah, fast reportageartig an den Protest-Ereignissen 2016 in Frankreich dran ist. Wobei für die namentlich ja immer noch nicht bekannten Autor_innen des Unsichtbaren Komitees das regelmäßige Kapern der Demospitze auch großer gewerkschaftlicher Aufmärsche durch den schwarzen Block das wichtige und stark symptomatische Ereignis für diese dichte Abfolge radikaler Proteste war. »Allen lebendigen Demonstranten (erschien es) selbstverständlich, dass die Mitlatschdemos nichts anderes sind als die Befriedung eines Protests. So konnte man miterleben, wie sich von einer Demo zur nächsten an der Spitze des Demozugs alles versammelte, was aus dem Gesellschaftskadaver desertieren will, um nicht seinen kleinen Tod mitzusterben.« Bei der Großdemonstration am 14. Juni, so weiß das Unsichtbare Komitee zu berichten, waren es dann ganze Gewerkschaftsverbände, die sich in der militanten Demospitze wiederfanden.

Auch wenn dieses situationistische Manifest die »Entschlossenheit zu desertieren, aus der Reihe zu treten, sich zu organisieren« einfordert, bleiben die Autoren ihrer bisherigen Kritik an jeglicher weitergehenden Organisierung treu. Diese hatten sie auch schon vor zwei Jahren in einer Publikation, die sich kritisch mit den Krisenprotesten auseinandersetzte, vorgebracht. Dementsprechend stehen sie auch der Bewegung Nuit debout, die im Frühling 2016 Plätze in Frankreich besetzte und ein basisdemokratisches Konzept verfolgte, recht kritisch gegenüber: »So glich Nuit debout letztlich einem imaginären Parlament, einer Art legislativem Organ ohne Exekutive und somit einer öffentlichen Darbietung von Machtlosigkeit, wie sie den Medien und Regierenden gut in den Kram passt.« Doch sie soll die auf der Agenda stehende Auseinandersetzung mit dem spätkapitalistischen Krisenregime in Frankreich und anderswo aber konkret aussehen? Eine schlüssige Antwort auf diese Frage bleiben die Autor_innen letztlich schuldig.

Für sie ist, ganz im Stil autonomer Politik, die Geste des Dagegenseins, des sich Verweigerns und aus der Reihe Tretens grundlegend. Die Erfahrung, dass der Kapitalismus in der Lage ist, jede Kritik zu absorbieren und so auch ihrer Meinung nach die Syriza nicht mehr als »zum idealen Vermittler der Sparpolitik der Europäischen Union wurde«, bedeutet, dass es vor allem darum gehen müsse, sich radikal abzugrenzen. »Lasst uns unregierbar sein!« ist dementsprechend das zentrale Motto ihres Kampfes.

Welche Rolle diese radikale linke Politik auf der Straße in den nächsten Jahren für kommende Protestgenerationen spielen wird, muss sich noch erweisen. Fest steht: Egal ob in Athen, Paris, Chile oder zuletzt in Hamburg, militante schwarze Blöcke tauchen immer öfter medienwirksam auf Demonstrationen auf. Dass diese Auseinandersetzungen eine gesamtgesellschaftliche Relevanz haben und breite Diskussionen auslösen, hat auch der »Aufstand von Hamburg« noch einmal deutlich gezeigt. In Frankreich gehen die Proteste gegen die neoliberale Regierung Macron indes in die nächste Runde. Die jungen radikalen Linken in den schwarzen Blöcken werden ein Teil davon sein.

Das Unsichtbare Komitee: »Jetzt«, Nautilus-Verlag, 128 S., 14 €.