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  • Asylpolitik in Berlin

Der anonyme Krankenschein kommt

Berliner Senat will ab 2018 jährlich 700.000 Euro für die Gesundheitsversorgung von Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung zur Verfügung stehen

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 3 Min.

Der anonyme Krankenschein soll nun auch in Berlin eingeführt werden. Je 700.000 Euro pro Jahr hat Gesundheitssenatorin Dilek Kolat (SPD) dafür im Entwurf für den Doppelhaushalt 2018/2019 eingestellt, der sich momentan in der parlamentarischen Beratung befindet.

Die Möglichkeit der Übernahme von medizinischen Behandlungskosten ohne die Erhebung von persönlichen Daten soll es Menschen ohne legalem Aufenthalt ermöglichen, Leistungen des regulären Gesundheitssystems in Anspruch zu nehmen. Geplant ist, einen freien Träger als Clearingstelle zu beauftragen. »Diese versucht, Menschen mit bestehendem Leistungsanspruch in die Krankenversicherung zu vermitteln«, erklärt Christoph Lang, Sprecher der Gesundheitsverwaltung, auf »nd«-Anfrage. Juristen und Sozialarbeiter sollen die Beratung übernehmen. Sollte die Prüfung negativ ausfallen, kann ein anonymer Krankenschein ausgegeben werden.

Damit wird ein Konzept Realität, dass das Medibüro Berlin bereits 2009 ausgearbeitet hat. Die nichtstaatliche und ehrenamtliche Initiative hat das Ziel, die Gesundheitsversorgung von illegalisierten Flüchtlingen und Migranten zu verbessern. Zwar haben auch diese Menschen die Möglichkeit, beim Sozialamt einen Krankenschein zu beantragen. »Allerdings ist das Sozialamt auch verpflichtet, die Daten an die Ausländerbehörde weiterzugeben«, sagt Maria Hummel vom Medibüro im Rahmen einer Veranstaltung des Bildungswerks Berlin der Heinrich-Böll-Stiftung. Ohne Identitätsnachweis nebst Anschrift ist es dem Amt bisher nicht erlaubt, den erforderlichen Krankenschein auszustellen. Doch damit droht den Betroffenen Abschiebung. »In der Praxis warten die Leute sehr lange, ehe sie zum Arzt gehen«, berichtet Hummel. Die Folge: Krankheiten können chronisch werden.

In akuten Fällen können Illegalisierte schon jetzt gefahrlos die Notaufnahmen der Krankenhäuser aufsuchen. »Denn dort nehmen Ärzte die Daten auf. Und die sind nicht verpflichtet, diese an die Ausländerbehörden weiterzuleiten«, so Hummel. Das Medibüro organisiert seit Jahren eine kostenlose Gesundheitsversorgung für Betroffene. Zweimal pro Woche gibt es im Kreuzberger Mehringhof eine Sprechstunde. Die Aktivisten haben eine Ärztenetzwerk aufgebaut, dessen Mitglieder unentgeltlich arbeiten. Für Sachkosten, wie Laboruntersuchungen und Medikamente ist die Initiative auf Spenden angewiesen.

»2015 gab es erst mal eine große Solidaritätswelle, wir haben sehr viele neue Ärzte und neues Geld dazubekommen«, schildert Hummel. Doch die Solidarität sei mit der Zeit deutlich abgeebbt. »Inzwischen suchen wir wieder händeringend Zahnärzte.« Und seitdem das zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge jetzt im Akkord über Asylanträge entscheidet, geht Hummel davon aus, dass viele Menschen neu in die Illegalität rutschen werden. »Deswegen brauchen wir schnell den anonymen Krankenschein«, sagt sie.

Die geplante finanzielle Ausstattung hält sie allerdings für dürftig. Denn nach einer groben Senatsschätzung leben rund 12 000 Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus in Berlin. Es ist absehbar, dass das jährliche Budget von 700 000 Euro schnell ausgeschöpft sein könnte. Da fällt die Freude über den Erfolg der jahrelangen beharrlichen Arbeit für die Einführung des anonymen Krankenscheins dann eher verhalten aus.

Seit 2012 beteiligt sich das Medibüro an dem vom Senat einberufenen Runden Tisch zur Flüchtlingsmedizin. »Erst mal ist vier Jahre gar nichts passiert«, berichtet Hummel. Offensichtlich war eine Verbesserung der Situation für den damaligen rot-schwarzen Senat kein vordringliches Anliegen. »Jetzt ist die SPD auf einmal bereit, etwas zu ändern«, sagt sie. Immerhin hätten sich SPD, LINKE und Grüne im Koalitionsvertrag auch dazu verpflichtet, den anonymen Krankenschein einzuführen. Jetzt sei man beim Medibüro froh, so lange an den Sitzungen des Runden Tisches teilgenommen zu haben. »Wir stehen immer vor der Abwägung, ob das Engagement einen politischen Wert hat, oder ob man ein beschissenes politisches System auch noch stabilisiert«, schildert Hummel den Zwiespalt. Konfrontiert mit der Not der Betroffenen, sei man in gewisser Hinsicht erpressbar, die Unterstützung des Senats zu suchen.

»Es ist Anspruch der Koalition, dass die gesundheitliche Versorgung von Menschen ohne Krankenversicherungsnachweis sichergestellt ist«, heißt im Koalitionsvertrag. Wie ernst dieser Satz genommen werden wird, das wird sich zeigen, falls die vorgesehenen Haushaltsmittel nicht reichen sollten.

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