nd-aktuell.de / 11.10.2017 / Politik / Seite 2

Massenverhaftungen in der Türkei: Kein Ende in Sicht

126 000 Menschen wurden seit Juli 2016 festgenommen, über 59 000 davon inhaftiert / Betroffen sind nicht nur vermeintliche Gülen-Anhänger

Ismail Küpeli

Ein Überblick darüber, wer derzeit in der Türkei aus politischen Gründen festgenommen oder inhaftiert ist, ist kaum noch möglich - allein wegen der schieren Anzahl der täglichen Verhaftungen. So finden sich etwa unterschiedliche Abgaben darüber, wie viele JournalistInnen in der Türkei inhaftiert sind: Während vorsichtige Schätzungen von über 170 ausgehen, melden Netzwerke wie Turkey Purge, dass sich 301 ReporterInnen in türkischen Gefängnissen befinden.

Etwa die Hälfte der über 126.000 Festgenommenen wurde nicht inhaftiert, sondern nach kurzer Zeit wieder freigelassen. In vielen Fällen dient die Festnahme der Einschüchterung von Menschen, die von dem Regime als UnterstützerInnen der Opposition angesehen werden. Mit der Festnahme und möglichen Misshandlungen im Polizeigewahrsam soll ihnen Angst eingejagt werden. Es kommt zudem vor, dass Menschen durch offenkundig falsche Denunziation zunächst festgenommen und dann freigelassen wurden, weil sie für das Regime keine Gefahr darstellen.

Bei den Verhaftungen erfahren häufig weder die Betroffenen noch ihre Angehörigen oder Anwälte, was den Inhaftierten genau vorgeworfen wird. Dies ist nicht einer Nachlässigkeit der Staatsanwaltschaften und der Polizei anzulasten, sondern markiert vielmehr eine nachhaltige Wende in der Justiz der Türkei. Die Staatsanwaltschaften verzichten darauf, eine Anklageschrift zu formulieren, weil sie so die Untersuchungshaft in die Länge ziehen kann. Dabei können sie sich darauf verlassen, dass die RichterInnen keine Freilassung für Oppositionelle aus der Untersuchungshaft anordnen werden. Falls wider Erwarten ein Richter sich »falsch« entscheidet und die Untersuchungshaft aufhebt, wird die Entscheidung gegen alle rechtsstaatlichen Prinzipien wieder rückgängig gemacht. Die maximale Dauer der Untersuchungshaft wurde durch ein Notstandsdekret von fünf auf sieben Jahre verlängert.

Eine weitere Eskalation dieser repressiven Nutzung polizeilicher und gerichtlicher Mittel lässt sich daran ablesen, wer von den Maßnahmen betroffen ist: Während es zuvor mehrheitlich diejenigen politischen Gegner der Regierung traf, die in der westlichen Öffentlichkeit und seitens der westlichen Staaten keine Sympathien genossen, hat sich inzwischen der Kreis der Betroffenen immens erweitert. Als zum Beispiel 2007 vermeintliche Putschisten aus dem Militär oder 2009 angebliche PKK-Mitglieder inhaftiert wurden, wurde die AKP-Regierung dafür nicht kritisiert. Dies hat sich geändert, nicht zuletzt weil auch zahlreiche Staatsbürger europäischer Länder in Gefängnissen sitzen und wie die anderen politischen Gefangenen auf einen Gerichtsprozess warten. Zuletzt hat die Staatsanwaltschaft für den deutschen Menschrechtler Peter Steudtner bis zu 15 Jahre Haft gefordert.

Die AKP-Regierung setzt nicht nur auf Repressionen innerhalb des Landes, sondern nimmt auch Oppositionelle im Exil ins Visier. So wurden am 10. August 2017 der schwedisch-türkische Journalist Hamza Yalçın und am 19. August 2017 der Kölner Schriftsteller Doğan Akhanlı in Spanien festgenommen. Die türkischen Behörden hatten - wie in anderen Fällen auch - eine Fahndung über Interpol wegen angeblicher »Terror«-Straftaten erwirkt. Auch der Ex-Chefredakteur der Zeitung »Cumhuriyet«, Can Dündar, soll nach dem Willen der Türkei auf eine Interpol-Fahndungsliste gesetzt werden. Yalçın und Akhanlı wurden wieder freigelassen, dürfen aber Spanien nicht verlassen.