70 000 warten auf Visum für Deutschland

LINKE warnt vor grotesken Zahlen zu Familiennachzug

  • Uwe Kalbe
  • Lesedauer: 3 Min.

Viel ist derzeit vom Familiennachzug von Flüchtlingen die Rede. Er ist für einen Teil der Flüchtlinge in Deutschland bis März 2018 ausgesetzt; betroffen sind vor allem syrische und irakische Kriegsflüchtlinge. Syrer bilden die größte Gruppe. Im Kompromiss der Unionsparteien vom Sonntag ist die Verlängerung dieser Aussetzung vorgesehen. Auf diese Weise soll die vorgesehene Obergrenze von 200 000 Flüchtlingen im Jahr garantiert werden. »Wir können unsere hohen Flüchtlingszahlen nicht durch Familiennachzug verdoppeln oder gar verdreifachen«, hatte Bundesinnenminister Thomas de Maizière in einer Bundestagsdebatte die Einschränkung des Familiennachzugs gerechtfertigt.

Doch so wie die Obergrenze von 200 000 eine willkürlich festgelegte Zahl ist, wird auch beim Familiennachzug mit unrealistischen Größen operiert. Die Verdreifachung der Flüchtlingszahlen, von denen de Maizière sprach, gehört dazu. Er wurde am Mittwoch noch von AfD-Fraktionschef Alexander Gauland übertroffen, der meinte, es drohe per Familiennachzug eine »Migrationswelle von rund zweieinhalb Millionen Menschen nach Deutschland allein in 2018«.

Tatsächlich geht die Bundesregierung von etwa 100 000 bis 200 000 Visa aus, die bis 2018 zu den bereits erteilten für Syrer und Iraker hinzukommen könnten. Zwischen 2015 und 2018 wären nach dieser Schätzung 200 000 bis 300 000 Angehörige von syrischen und irakischen Flüchtlingen in Deutschland zu verkraften. Wie in einer Antwort des Bundesinnenministeriums an die Innenexpertin der Linkspartei im Bundestag, Ulla Jelpke, zu lesen ist, warten derzeit rund 70 000 Menschen auf Visa zum Familiennachzug zu syrischen oder irakischen Verwandten in Deutschland. Hinzu kommen 102 000 Menschen, die bereits zu geflüchteten Verwandten einreisen durften. Es handelt sich hier um Angehörige anerkannter Flüchtlinge (nach der Genfer Flüchtlingskonvention, GFK), die einen Anspruch auf Familienzusammenführung haben. Das Recht auf Familiennachzug auch für subsidiär Schutzberechtigte wurde nach einer EU-Vorgabe Mitte 2015 geschaffen. Im März 2016 wurde der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten dann jedoch für zwei Jahre ausgesetzt.

Wie viele Menschen wirklich kommen würden, wenn ihnen dieses Recht gewährt würde, ist Spekulation. Aber es gibt Anhaltsgrößen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) geht bisher von einem »Nachzugfaktor« von 0,9 bis 1,2 pro Flüchtling aus. Ulla Jelpke hält dies für übertrieben und spricht von einem Faktor von 0,5. Ihre Rechnung: Im Zeitraum 2015 bis Mitte 2017 erhielten etwa 360 000 syrische und irakische Asylsuchende einen Asyl- oder Flüchtlingsstatus nach Genfer Flüchtlingskonvention, der zum Familiennachzug berechtigt. Im gleichen Zeitraum wurden 102 000 Visa für Familienangehörige dieser Schutzberechtigten erteilt, 70 000 Familienangehörige warten darauf, ein entsprechendes Visum beantragen zu können. Daraus ergebe sich ein rechnerischer »Nachzugsfaktor« in Höhe von 0,5. Er wäre also nur halb so groß wie der vom Bamf zugrunde gelegte.

Vor diesem Hintergrund nennt Jelpke die Fantasien Gaulands deshalb »grotesk«und »pure Hetze, ohne jeden Realitätsbezug«. Zu den Angaben aus dem Außenamt sagte sie: »Das ist eine absolut überschaubare und ohne Zweifel beherrschbare Zahl, selbst wenn im nächsten Jahr der Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigten wieder möglich werden sollte.«

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