nd-aktuell.de / 13.10.2017 / Sport / Seite 19

Alles eine Nummer zu groß

Den fetten Jahren an der Bundesligaspitze folgte die Insolvenz. Jetzt wagt der Handballclub Leipzig in der 3. Liga den Neuanfang

Oliver Kern

Der Schock ist noch längst nicht verdaut. Auch der Hallensprecher erinnert noch mal daran: »Jede Katastrophe ist auch immer ein Neuanfang«, sagt er und begrüßt »das Zukunftsteam 2020« auf dem Parkett der Leipziger Sporthalle an der Brüderstraße. Gleich nach seiner Gründung im Jahr 1999 spielte hier der Handballclub Leipzig (HCL), Nachfolger des DDR-Frauenrekordmeisters SC Leipzig, der nach der Wende zunächst als VfB Leipzig firmierte. Nach der Neugründung 1999 gewnn er vier deutsche Meisterschaften. Der HCL zog schon bald in die große moderne Arena an der Jahnallee um und spielte dort sogar Champions League - bis in der vergangenen Saison alles auseinanderbrach. Die Spielbetriebs-GmbH meldete Insolvenz an.

Trainer und Spielerinnen haben die Stadt längst verlassen. Jetzt fängt der Verein neu an. Mit jungen Talenten - und wieder an der Brüderstraße. Der neue Vereinspräsident ist seit August Rainer Hennig. »Ich rechne jetzt mit 400 bis 500 Zuschauern. Das wäre immer noch sehr gut für einen Drittligisten. Der Kern der Fans ist noch da, aber es ist doch nur noch ein Viertel unseres früheren Schnitts«, sagt der 70-Jährige, der im Präsidium noch zwei Kollegen an seiner Seite hat. »Als es kritisch wurde, war es gar nicht einfach, genügend Leute zusammenzubekommen«, erinnert sich Hennig.

Kritisch wurde es erstmals vor etwa einem Jahr, als auch öffentlich sichtbar wurde, dass die ausgegliederte Spielbetriebs-GmbH des HCL Schulden hatte - hohe Schulden. Wie es dazu kam, dazu hat jeder seine eigene Version. Manager Kay-Sven Hähner sprach von Sponsoren, die Zusagen nicht eingehalten hätten. Andere meinen, der Klub habe einfach zu viel gewollt. Hennig will lieber gar nichts dazu sagen. Die GmbH sei jetzt Sache des Insolvenzverwalters Alexander Jacobi. »Die Schulden belaufen sich auf etwa 1,5 Millionen Euro«, bestätigt dieser dem »nd«. Das Vermögen sei hingegen nur noch sehr gering. Demnächst wird das Inventar versteigert: »T-Shirts, Autogrammkarten, Kleidung und Trainingszubehör. Auch der Chefsessel, auf dem Herr Hähner früher gesessen hat«, sagt Jacobi. Die Einnahmen werden dann an die mehr als 50 Gläubiger verteilt, die wohl weniger als zehn Prozent ihrer Forderungen zurückerhalten werden.

Auch der Mutterverein HC Leipzig hatte Finanzprobleme, sagt Jacobi, »aber die hat Herr Hennig in den Griff bekommen. Der Verein ist jetzt schuldenfrei und muss auch keine negativen Rückkopplungen von der Insolvenz seiner GmbH mehr befürchten.« Der Frauenhandball und die Nachwuchsförderung in Leipzig seien gesichert, zumal sich Hennig darüber freuen kann, dass einige Sponsoren dem Verein die Treue gehalten haben.

Die Pleite des Klubs hatte sich lange vor 2017 angedeutet. Eine Insolvenz sei, so meint es jedenfalls Alexander Jacobi, schon vor zwei Jahren möglich gewesen, doch damals versuchte sich der HCL erst einmal an einem Sanierungskonzept. »Menschlich kann man Herrn Hähner kaum einen Vorwurf machen. Es ist schwer, ein Unternehmen in die Insolvenz zu führen, wenn auch andere Beteiligte die Sache stützen. Die Stadt, die Investoren, der Verein haben es gestützt«, weiß Jacobi nach Durchsicht aller Akten. Sprangen dann wirklich Sponsoren ab, wie es Hähner behauptet? »Es gibt Unterlagen, die das plausibel erscheinen lassen. Ob ihm das im Strafprozess tatsächlich nutzen wird, ist noch offen«, sagt der Insolvenzverwalter. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Insolvenzverschleppung.

Insolvenzverwalter Jacobi glaubt, der ursprüngliche Fehler sei die Entscheidung gewesen, überhaupt an der Champions League teilzunehmen. Dafür mussten bessere Spielerinnen und teure Trainer verpflichtet werden. Die Miete für die Arena war viel höher als die für die Sporthalle Brüderstraße. Vor allem aber: »In Leipzig besteht nicht das finanzielle Potenzial dafür, Frauenhandball so stark zu sponsern. Es ist zu viel anderes los«, sagt Jacobi. Fürwahr: In der Arena spielt mittlerweile der DHfK Leipzig in der Männer-Bundesliga, die Fußballer von RB empfangen im benachbarten Zentralstadion Europas Spitzenklubs aus Porto, Istanbul und Monaco. Die Handballerinnen - rund um die Jahrtausendwende noch einziger Lichtblick in der Sportstadt - verschwinden im Lokalsportteil.

Die alten Fehler will der neue Präsident nun unbedingt vermeiden: »Wir werden nur noch das Geld ausgeben, das wir haben. Notfalls sagen wir den Fans: ›Mit dem Budget können wir eben nicht mehr um den Deutschen Meistertitel mitspielen.‹« Davon träumt ohnehin wohl niemand unter den 800 Zuschauern, die sich am vergangenen Sonntag bei der Rückkehr in die Brüderstraße die 22:35-Niederlage im DHB-Pokal gegen den Bundesligisten VfL Oldenburg anschauen. Der Alltag heißt 3. Liga und das mit der jüngsten Mannschaft, Durchschnittsalter 16,9 Jahre - eine Studentin, sonst alle Schülerinnen. Das ehemalige »Juniorteam« muss plötzlich die Kohlen aus dem Feuer holen. Ein ambitioniertes Ziel ist schon ausgegeben: Aufstieg in spätestens drei Jahren. Nur als Zweitligastandort kann Leipzig Bundesstützpunkt des Deutschen Handballbundes (DHB) bleiben.

Die 18-jährige Anna Lena Plate hat kein Problem mit dem Druck. »Es ist eine coole Aufgabe, das Gesicht des großen HC Leipzig zu bewahren. Wenn man immer nur um den Klassenerhalt kämpft, wird es ja langweilig«, sagt Plate. Außerdem habe man kürzlich schon Tabellenführer Mainz bezwungen. »Das zeigt, dass wir die Liga drauf haben. Wir werden mit der Zeit erfahrener, also ist der Aufstieg in drei Jahren definitiv möglich.«

Noch profitiert der Verein von der Strahlkraft des alten HC Leipzig. Die Talente kamen schon vor Jahren aus der ganzen Republik. Sportschule, Internat, die gute Nachwuchsarbeit des Bundesligisten waren gewichtige Anreize. Sie sind alle noch da. Juniorentrainerin Marion Mendel blieb und bekam mit Max Bertold und Wieland Schmidt sogar noch Co-Trainer und Torwarttrainer der ehemaligen Bundesligamannschaft an die Seite gestellt. Dabei kann der 63-jährige Schmidt die Enttäuschung über den Niedergang nicht leugnen. »Es tut schon sehr weh: 2014 waren noch 5000 Zuschauer in der Halle, als wir Pokalsieger wurden«, erinnert er sich. Jetzt wolle er Teil des Neuaufbaus sein. Er habe gute Angebote gehabt, aber er fühle sich in Leipzig immer noch wohl. »Ich kann mich mit dem Konzept identifizieren, von unten wieder etwas aufzubauen«, sagt der Olympiasieger von 1980 dem »nd«.

Dass überhaupt noch Fans dem Verein die Treue halten, ist nicht selbstverständlich. Als der HCL in der vergangenen Saison seinen Spielerinnen die Gehälter nicht mehr zahlen konnte, bat er alle Sympathisanten um Hilfe. 100 000 Euro kamen zusammen, jetzt ist das Geld weg. Alexander Jacobis Einschätzung zufolge wurde es für die Aufrechterhaltung des Spielbetriebs genutzt, »also nicht zweckentfremdet. Zur Entschuldung reichte es aber nicht, dafür war es viel zu wenig.«

Manchen Fans dürfte die Aktion trotzdem missfallen haben. »Es wurde immer von einem Unterstützerkonto gesprochen, so dass die meisten glaubten, es handele sich um ein Extra-Konto. Es war aber das normale Geschäftskonto«, berichtet der Insolvenzanwalt. »Man hätte vielleicht sagen sollen: ›Wir brauchen diese bestimmte Summe, und wenn das nicht klappt, bekommt ihr euer Geld zurück.‹ Die Leute wurden nicht belogen, aber man hätte es transparenter gestalten können«, so Jacobi.

Einen ehemaligen Leipziger Trainer überrascht das alles nicht mehr. Unter Maik Nowak gewann der Verein einst die ersten Nachwendetitel, heute beobachtet er die besten Nachwuchstalente für den DHB. An diesem Sonntag aber nur die Oldenburgerinnen, die Leipzigerinnen sind noch nicht so weit. Das schmerze auch ihn, doch »die Situation hatte sich angedeutet. Niemand muss so tun, als hätte er von nichts gewusst. Es ist traurig, denn hier stecken neun Jahre meiner Arbeit drin«, sagt Nowak. Immerhin erkennt auch er »große Chancen für den HCL, sich aus dem Nachwuchs heraus neu zu entwickeln«, auch wenn es erst mal nur bis in die zweite Liga gehen sollte.

Beim Anblick der gut gefüllten Zuschauertribüne und der engagierten Talente auf dem Feld träumte Vereinspräsident Rainer Hennig am Sonntag schon wieder von mehr: »Wenn wir die Halle voll bekommen mit knapp 1000 Fans, kann ich mir eines Tages auch wieder Bundesliga- und Europapokalspiele hier vorstellen. Die Halle ist dafür zugelassen.«