Die große Frage nach dem Sinn stellte sich schon, bevor es überhaupt erschaffen war. Kann, darf, soll Kunst, die davon lebt, sich den Raum, ihre Umgebung anzueignen -, und das auch noch illegal - eingesperrt und in eine (legale) Form gepresst werden? Unnatürlich sei das, ein Verrat an der Kunst, hieß es im Vorhinein.
Yasha Young, eine der Kuratorinnen des Urban Nation, Berlins (und der Welt) erstes Museum für Street Art, hat sich die Frage auch gestellt und es einfach gemacht. Fünf Jahre hat sie überlegt, wo und wie sich ein eigenes Museum für urbane Kunst entwickeln ließe. Seit Mitte September stellen nun 150 bekannte und weniger bekannte Street-Art-KünstlerInnen auf zwei Etagen des Jugendstil-Eckhauses in der Bülowstraße in Schöneberg ihre Arbeiten aus. Das Haus hat eine Wohnungsbaugesellschaft zur Verfügung gestellt.
Die Umgebung ist klug gewählt, authentisch darf man nicht mehr sagen, aber parallel verläuft die Kurfürstenstraße mit Berlins berühmtestem Straßenstrich, gegenüber eine Sports-Bar mit dem verheißungsvollen Namen »Hardy’s Pub«, eingebettet in ein Haus, dessen Fassade komplett mit kosmischen Graffiti bedeckt ist. Die Fenster des nahen U-Bahnhofs Nollendorfplatz sind oberirdisch mit abstrakten Grafiken beklebt. Eine ganze Straße ist in den Farbeimer gefallen.
Im Urban Nation hängen hauptsächlich Bilder auf Leinwand, Kunst, die fast ausschließlich für das Museum geschaffen wurde, weil Street Art nun mal keine Drinnenkunst ist. Gleich im Eingang begrüßt den Besucher der berühmte Shepard Fairey, der aus der Skaterszene stammt, und Obamas »Hope«-Plakat entwarf, mit dem »Obey«-Schriftzug schon Ende der 1980er Jahre berühmt geworden war und später daraus das gleichnamige Modelabel machte. »Revolutionary Woman« ist eine meterhohe Grafik und erinnert an die Ästhetik der chinesischen Kulturrevolution, versehen mit dem Slogan »Peace«. Das Werk gibt es im Internet mittlerweile in einer praktikableren Größe fürs Wohnzimmer auch als Kunstdruck, was die Debatte um das Selbstverständnis der Szene zwischen Kunst und Kommerz überdeutlich macht. Angefangen hatte alles Ende der 70er Jahre mit der Devise, die Botschaft sei das Kunstwerk selbst und alles, was entsteht, ist der Versuch, mit einer anonymen Masse an Betrachtern ins Gespräch zu kommen, die gar nicht anders können, als hinzusehen, weil sie jeden Tag an den teils ironischen oder cleveren, manchmal nur komischen Kommentaren zur Gegenwart vorbeilaufen.
Unterteilt sind die Arbeiten im Urban Nation in Kategorien wie »Aktivismus«, »Pop«, »Konzept-« und »figurative Kunst«. Ausgerechnet der Teil, der mit »Aktivismus« überschrieben ist, ist allerdings recht klein geraten, obwohl das immer schon der kreativste Teil der Szene ist. Stellvertretend ist an dieser Stelle Dave the Chimp zu sehen. Der Brite, der mittlerweile in Berlin lebt, ist bekannt für seine Protestbohnen »Human Beans«, die in der Stadt meist mit Demoschild auftauchen und uns aus der Alles-egal-Lethargie reißen sollen, die ihn selbst vor Jahren befallen hat. Erst Berlin, sagt er, hat ihn wieder politisiert.
Street-Art-Aktivismus in sterile weiße Räume zu sperren, ist unmöglich, was einen lebendigen Teil der Szene gar nicht in Erscheinung treten lässt. Wie etwa das Künstlerkollektiv Rocco und seine Brüder, die im Februar 2016 ein ganzes Wohnzimmer in der U9 einrichteten, kürzlich eine Gebetsbank vor einem Bankautomaten in einem U-Bahnhof aufstellten und mit einer gefakten Airbnb-Werbung Bahnhöfe tapezierten, die BVG also regelmäßig in den Wahnsinn treiben. Dadurch wirkt das Urban Nation - bis auf wenige Ausnahmen - wie eine harmlose Kunstschau. Wenige der Ausstellungsstücke haben mit dem eigentlichen Material der Street Art zu tun, lassen sich Straßenschilder, Gehwegplatten und Backsteine doch schlecht ins Museum karren. Es reicht wohl auch, wenn ein Banksy aus den Wänden geschnitten wird, um die Mauerteile bei Auktionen zu verhökern.
Der Vorwurf, Street Art mit dem Museum nicht gerecht zu werden, stört Yasha Young sicherlich nicht, die Idee des Museums geht über das reine Ausstellen hinaus. Geplant sind Workshops für Kinder aus der Nachbarschaft, es gibt Künstlerwohnungen, die jungen Talenten zur Verfügung gestellt werden sollen. Die Fotografin Martha Cooper, Pionierin der Hip-Hop- und Graffiti-Fotografie, hat dem Museum einen Teil ihrer Fotosammlung für Forschungszwecke überlassen.
Es passiert wohl auch nicht alle Tage, dass ein Museum von Schulklassen gestürmt wird und sich dabei ernsthaftes Interesse fürs Gezeigte bemerkbar macht. Ein Mädchen aus München ruft: »Das Beste am ganzen Museum sind die Toiletten.« Dort sind die einstmals weißen Wände mit Grüßen, Botschaften und Namen vollgeschrieben, die Stifte kann man sich aus einer Box neben dem Waschbecken nehmen.
Urban Nation, Bülowstraße 7, Schöneberg, dienstags bis sonntags 10-18 Uhr, Eintritt frei
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1066870.strasse-auf-leinwand.html