Die Pflicht der Kinder einstiger Täter

Erkenntnisreich: Wie der Historiker und Erwachsenenbildner Jörg Wollenberg gegen Verdrängung kämpft

  • Günter Benser
  • Lesedauer: 3 Min.

Er hat sich wie kaum ein anderer über Jahrzehnte hinweg mit »deutscher Erinnerungskultur« auseinandergesetzt, unermüdlich schriftliche Quellen und Zeitzeugenberichte zum antifaschistischen Widerstand gehoben, die Verbrechen des Hitlerregimes und die Verstrickungen deutscher Eliten in diese enthüllt, den Alltag der rassistisch Verfolgten dargestellt und die großen und kleinen Arisierungsgewinner angeprangert.

Jörg Wollenberg hat den Griff in die Geschichte zugleich immer damit verbunden, die nach 1945 einsetzenden Verdrängungs- und Reinwaschungsmechanismen aufzudecken und gegen die Verharmloser, Umdeuter der Geschichte unter der Flagge einer »konservativen Revolution« zu Felde zu ziehen. Und dies in vielfältigen, in Wort und Bild stets auf Wirksamkeit bedachten Formen - mit wissenschaftlichen Aufsätzen und Essays, Vorträgen, Ausstellungen, Dokumentationen, Bildungsveranstaltungen. Karl-Heinz Roth bezeichnet im Vorwort zu Bd. II Wollenbergs Schaffen zutreffend als »Synthese von Forschung, von pädagogischem Impuls und politischer Publizistik«. Er habe dies geleistet als Vertreter der »Generation der Kinder der NS-Täter«, denn sein Vater war an der brutalen Ausplünderung der Ukraine beteiligt.

Was Wollenberg besonders auszeichnet, ist sein Streben nach Konkretheit und Anschaulichkeit, doch immer verbunden mit grundlegenden Interpretationen und Bezügen zur Gegenwart. Forschungen vor Ort, Befragen von Zeitzeugen gehören zu seiner Arbeitsmethode. Beträchtlich ist die Zahl der Personen, die als geschätzte Vorkämpfer, als Mentoren oder Wegbegleiter von ihm gewürdigt oder auch als Vertreter politischer und ökonomischer Machteliten von ihm gebrandmarkt werden.

Seine Spurensuchen ließen ihn zugleich zum Sammler wertvoller Überlieferungen der Arbeiterbewegung in all ihren Facetten und des antifaschistischen Widerstandes werden wie auch von Zeugnissen ihrer Gegner. Und fast immer sind seine publizistischen Beiträge polemisch angelegt, werden die geistigen Quellen nationalistischer und rassistischer Haltungen, Urheber und Kolporteure aufgedeckt wie auch deren moderne Nachfolger. Zum Drang nach den authentischen Quellen gesellt sich eine große Belesenheit.

Ein weiteres Feld, dem sich Wollenberg intensiv gewidmet hat, ist die Erwachsenenbildung. Vor allem als Leiter des Bildungsamtes der Stadt Nürnberg bot sich ihm die Gelegenheit, Neues in der Vermittlung von Wissen und Überzeugungen auszuprobieren. Das hat sich auch in Beiträgen zur Methodik der Erwachsenenbildung niedergeschlagen, die indes stets ihren Bezug zu den inhaltlichen Thematiken haben. Das Hauptbetätigungsfeld des in Ahrensbök bei Lübeck Geborenen lag und liegt jedoch in Bremen, weshalb dieses Gebiet in besonderem Maße als Geschichtsregion in Erscheinung tritt.

Nun hat der inzwischen 80-Jährige den Ertrag seines wissenschaftlichen, publizistischen und pädagogischen Wirkens - verbunden mit autobiografischen Auskünften - in zwei großformatigen, reich illustrierten Bänden der Öffentlichkeit übergeben. Was bisher verstreut zu finden, unveröffentlicht geblieben war oder eigens für die vorliegende Publikation geschrieben wurde, ist zusammengeführt. Dem ist eine DVD beigegeben, die Film-Videos, Radiosendungen, Ausstellungen und weitere Texte enthält. Wir dürfen wohl von einer Zusammenführung des Lebenswerkes dieses Autors und politischen Akteurs sprechen.

Außer den Rezensenten wird wohl schwerlich jemand beide Bände von der ersten bis zur letzten Seite durchlesen oder zumindest überlesen, obwohl es sich lohnen würde. Sie bieten sich aber als Fundgrube für das Studium unterschiedlicher historischer Gegenstände und Sachverhalte an, zur Bereicherung eigener Erkenntnisse und nicht zuletzt auch als Beispiele engagierter Auseinandersetzung mit individuellen und kollektiven Erinnerungen, deren Nutzung und deren Missbrauch.

Jörg Wollenberg: Krieg der Erinnerungen. Von Ahrensbök über New York nach Auschwitz und zurück. Eine Spurensuche, Bd. I, 313 S., geb., 40 €.

Derselbe: Die andere Erinnerung. Spurensicherung eines widerständigen Grenzgängers. Bd. II, 356 S., geb., mit DVD, 50 €; beide Bände Sujet-Verlag.

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