nd-aktuell.de / 27.10.2017 / Kultur / Seite 14

Von der Rose zum Hakenkreuz

Luther und die Deutschen - ein kritischer Diskurs von Jakob Knab

Karlen Vesper

Die Kirche, die die Reformation feiert, lässt dem alten Luther seine Ruhe nicht, er muss herhalten zu allem Schlimmen, was heute in der Kirche vorgeht», klagte Dietrich Bonhoeffer am Reformationstag 1932 in der Berliner Dreifaltigkeitskirche. Einen «verbalen Donnerschlag» nennt Detlef Bald, Vorsitzender des Dietrich-Bonhoeffer-Vereins München, dessen Predigt. «Und man sieht nicht, dass diese Kirche nicht mehr die Kirche Luthers ist», schleuderte der spätere Mitbegründer der Bekennenden Kirche mutig den sogenannten Deutschen Christen entgegen, die im vorauseilenden Gehorsam der Lutherrose das Hakenkreuz beigesellten.

Es sind indes sehr wohl in der Theologie des Wittenberger Reformators Elemente vorhanden, an die völkischer und nazistischer Ungeist anknüpfen konnte. Die Forschung hat in den 85 Jahren nach Bonhoeffers Predigt vieles offengelegt, was auch die heutige Kirche noch gern verschweigen würde: Luthers Antisemitismus und Antiziganismus, dessen Raserei wider sich gegen Knechtschaft und Unterdrückung erhebende Aufständische, sein blindes Subordinationsgebot unter weltliche Obrigkeit und sein Hexenwahn und sein irrwitziger Teufels(aber)glaube.

Auf blinde Flecken und Desiderate trotz ausgiebig begangener Luther-Dekade verweist der Theologe (und nd-Autor) Jakob Knab. Er moniert nicht nur, dass im Grundlagentext «Rechtfertigung und Freiheit» des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zu 500 Jahren Reformation der Umstürzler und gefährlichste Gegner Luthers, nämlich Thomas Müntzer, nicht vorkommt. Die zwiespältige Erfolgsgeschichte der Reformation, so der Autor, sei in diesem Jahr von der EKD in dem «fröhlichen Bewusstsein» begangen worden, dass «die reformatorische Freiheitsbotschaft zur Entstehung des Rechtsstaates beigetragen» habe. «Fröhlich und naiv wird übersehen, dass die bedingungslose Kapitulation vom 8. Mai 1945 die entscheidende Voraussetzung für die Entstehung des deutschen Rechtsstaates war.» Und abgesehen davon hatte der zwei Jahrhundert vor der Aufklärung lebende und wirkende Luther mit Bürger- und Menschenrechten gar nichts am Hut.

Interessant die Interpretation von Knab, nicht der unter Historikern umstrittene Thesenanschlag vom 31. Oktober 1517, sondern der legendäre Auftritt vor dem Reichstag in Worms sei der Höhepunkt in Luthers Leben gewesen: «Als der Mönch Martinus Luther an jenem 18. April 1521 den Widerruf ablehnte, machte er Weltgeschichte.» O Gott, muss man da jetzt ein neues Reformationsjubiläum ausrufen? Für 2021?

Knab streitet sachkundig und quellengestützt gegen die «protestantische Meistererzählung»: Einer gegen alle. En passant stellt er klar, dass der Begriff von der «Zwei Reiche»-Lehre nicht von Luther stammt, sondern Produkt der Rezeption sei, geprägt vom lutherischen Theologen Hermann Diem in der Streitschrift «Karl Barths Kritik am deutschen Luthertum» (1947). «Wohl in keiner christlichen Kirche wird die eigene Gründergestalt so überhöht und verklärt wie Luther im Protestantismus», konstatiert Knab und fragt sich: «Wie konnte aus Luther, dem Rebellen in Zeiten des Umbruchs, der angesichts der weltlichen und geistlichen Obrigkeit die bewundernswerte Standfestigkeit eines Frommen zeigte, jener mit dem Makel des Fürstenknechts behaftete Reformator werden?»

Eigentlich habe er dieses Buch gar nicht schreiben wollen, lässt der Autor wissen. Eine Artikelanfrage bewog ihn, sich in die Materie zu vertiefen, trieb ihn schon in aller Herrgottsfrühe in sein Arbeitszimmer, um sich durch Berge von Büchern zu exzerpieren. Seine Frau habe besorgt gefragt: «Schreibst du mal wieder ein Buch?» Als er bejahte, habe sie gestöhnt: «Au weh, jetzt wird der Schleiermacher abgewatscht.»

In der Tat wird der Protagonist des deutschen Idealismus von Knab als ein «antisemitischer Denker» und «national-protestantischer Kriegsprediger» entlarvt und als Begründer einer unseligen Tradition: «Denn wo die Idee der Nation zur höchsten Leitlinie erhoben wird und über allen anderen Grundwertren steht, ist der Allmacht und Halbgöttlichkeit des Staates Tor und Tür geöffnet.» Auf Schleiermachers Staatsdenken fußten die «Eisen-und-Blut-Politik des Reichsgründers Bismarck und der Antisemitismus und Chauvinismus von Treitschke, der Luther zum »ewigen Deutschen« kürte.

Knab spannt den Bogen von der Reichsgründung über die Glorifizierung Luthers und Hindenburgs als ein kriegerisches Gespann in den Jahren 1914 bis 1918 bis hin zum »Tag von Potsdam« am 21. März 1933 in der Garnisonkirche. Damals schlossen Kirche, Militär und Faschismus einen Pakt, worauf sich Hitler zum Träger des »furor teutonicus« (teutonische Raserei/Angriffslust) erhob und die Mehrheit der deutschen Christen untertänigst mitmarschierte - bis fünf Minuten nach zwölf. Knab zitiert u. a. den Thüringer Landesbischof Martin Sasse, in dessen Pamphlet »Martin Luther über die Juden: Weg mit ihnen!« erschreckend offen die »unheilvolle Gemengelage von ideologischer Verblendung, aufgeladenem Fanatismus sowie rassistischer Dumpfheit« zutage trat.

In seinem beeindruckend fakten- reichen Diskurs über Luther und die Deutschen von 1517 bis in die Gegenwart erinnert der Autor stets auch an Mahner und Kritiker von Irrglauben und Irrwegen. Er merkt aber ebenso an: »Wenn es um Aufrufe zu Gehorsam, Pflichterfüllung und Opferbereitschaft für das Vaterland ging, dann verliefen die Grenzlinien zwischen den ›Deutschen Christen‹ nicht so eindeutig, wie die legendäre Überhöhung der Bekennenden Kirche es in der Nachkriegszeit oft und gerne vorspiegelte.« Natürlich fehlt das Stuttgarter Schuldbekenntnis vom 19. Oktober 1945 nicht (»Wir sind in die Irre gegangen«); der Autor verweist aber zugleich darauf, dass dieses bei Weitem nicht mehrheitlich anerkannt war. In seinem abschließenden »lebensgeschichtlichen Rückblick« resümiert der 1951 in Bayern geborene Autor Ambivalenzen der Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur in der BRD.

Das hochinteressante Buch erschien in einem kleinen Bremer Verlag. Dessen Gründer und langjähriger Chef, Helmut Donat, verfasste ein gleichfalls anregendes Nachwort, in dem er seine Bindungen ans und die Befreiung vom Luthertum schildert. Kurzum: Hier liegt eine Publikation vor, die der sich dem Ende zuneigenden Luther-Dekade ein kluges und kraftvolles Schlusswort verleiht.

Jakob Knab: Luther und die Deutschen 1517 - 2017. Donat. 304 S., geb., 16,80 €.