Policen vor dem Ausverkauf

Versicherer wollen 20 Millionen Lebensversicherungen entsorgen

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 4 Min.

Passanten in der Hamburger City Nord bleiben überrascht stehen. Der Anblick demonstrierender Versicherungsangestellter ist nicht alltäglich. Betriebsräte und die Neue Assekuranz Gewerkschaft (NAG) machen gegen den geplanten Verkauf der Lebensversicherungstöchter des Düsseldorfer Konzerns Ergo mobil. Anfang Oktober übte der Betriebsrat der früheren Hamburg-Mannheimer in einer außerordentlichen Betriebsversammlung Kritik an den Verkaufsplänen und kritisierte die »hinterlistige Vorgehensweise« des Vorstands. Rund 1000 Beschäftigte folgten laut NAG dem Aufruf der - so ein Ergo-Beschäftigter - »Möchtegerngewerkschaft« und nahmen an der Kundgebung »Ergo Leben - Not for Sale!« teil. Nicht zu verkaufen? Den Beschäftigten hatte der Vorstand einen »Wachstumspfad« innerhalb der Ergo versprochen. »Nun sei der Fuchs im Hühnerstall noch vor der Tat ertappt worden«, sagt NAG-Vorstandsvize Tobias Münster. Weitere Aktionen seien »wahrscheinlich«.

Nicht nur Ergo liebäugelt damit, Altverträge auf Halde zu legen. Dabei geht es um über 20 Millionen Lebensversicherungsverträge, für die vergleichsweise hohe Zinsen an Kunden gezahlt werden müssen. In den kommenden fünf Jahren werden sich die Konzerne von jedem fünften Vertrag trennen und das Neugeschäft in den betreffenden Tarifen einstellen, prognostiziert das Ratinghaus Fitch. Policen mit einem Volumen von insgesamt 180 Milliarden Euro würden abgewickelt. Grund sind niedrige Zinsen und höhere Kapitalanforderungen, so Fitch. Die niedrigen Zinssätze seit der Finanzkrise machen Policen, für die bis zu vier Prozent Garantiezins gezahlt werden müssen, für Unternehmen unattraktiv. Zudem schmälern neue Sicherheitsauflagen durch die Behörden den Profit.

Um sich von kostspieligen Altlasten zu befreien, planen immer mehr Konzerne, sich von klassischen Kapitallebensversicherungen zu trennen. Entweder hausintern, in dem Altverträge in eine Art »Bad Bank« abgeschoben werden oder durch den Verkauf an externe Dienstleister. Doch ist das Abwickeln von Altbeständen, der »Run-off«, umstritten. Kunden wollen betreut werden, bis ihr Vertrag ausläuft - und länger. »Ist das garantiert, wenn plötzlich ein Hedgefonds die Policen verwaltet?«, kritisiert das Fachblatt »Versicherungsbote«.

Derzeit wird auf dem deutschen Markt für Lebensversicherungen ein Volumen von 90 Milliarden Euro abgewickelt, so Fitch. Aktuell würden Versicherungsunternehmen meist ihre Policen selbst verwalten. Aber zunehmend werde es attraktiver, Verträge an externe Investoren zu verkaufen - darunter sogenannte Bestandsverweser wie die »Heidelberger Leben«, die sich auf die Abwicklung von Altbeständen spezialisiert haben.

Vorgeprescht sind kleinere Versicherer. Doch nun haben die Nummer zwei und drei der Branche - Generali und Ergo - angekündigt, mit einem Abschied von klassischen Policen zu liebäugeln. Auch Axa und Aachen-Münchner tun dies offenbar. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) in Bonn hat angekündigt, die Einhaltung der Kundenbelange genau zu beobachten.

Der Bund der Versicherten (BdV) sieht »ein Erdbeben in der deutschen Versicherungslandschaft« und große Gefahren für die Kunden. »Wenn ein Investor diese Bestände kauft, dann tut er das mit dem Ziel, möglichst viel Rendite zu erwirtschaften«, erklärt Axel Kleinlein, Vorstandssprecher des BdV. Das funktioniere aber nur, wenn er den Versicherten möglichst viele Überschüsse vorenthalte und in die eigene Tasche stecke. Angesichts der großen Bedeutung der Ergo und einer vermutlich schwachen Aufsichtsbehörde sehe sich der BdV in der Pflicht: »Wir werden ein sehr scharfes Auge auf diejenigen haben, die diese Verträge aufkaufen.«

Ein scharfes Auge auf die Vorgänge hat auch die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. »Die Übernahme von Lebensversicherungsbeständen ist nur dann attraktiv, wenn ich diese Bestände möglichst billig und effektiv verwalte«, schlägt ver.di-Expertin Martina Grundler in dieselbe Kerbe wie der BdV. Sie geht davon aus, dass Finanzinvestoren mit den Beständen nicht auch das Personal übernehmen wollen. »Insofern droht Jobverlust.« Allein bei der Ergo arbeiten rund 1000 Beschäftigte in diesem Bereich.

Ein »Run-off« könnte auch für die übrigen Beschäftigten negative Folgen haben, denn das Lebensversicherungsgeschäft ist in allen Konzernen ein zentraler Bereich, der in der Vergangenheit eine wesentliche Rolle für die Finanzierung des Vertriebs spielte. Welche Auswirkungen ein Ausverkauf auf die Beschäftigten haben wird, so Grundler, hänge entscheidend davon ab, wie die Übertragung der Bestände gestaltet würde.

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