Glanz im Dreck

Großes proletarisches Lohen: »Hunger« nach Emile Zola am Thalia-Theater Hamburg

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Was stattfindet, ist ein dunkles Wühlen in großer Not: Wie finden wir im Kosmos der Seele eine Tür der Erlösung, die wir hinter der Welt zuschlagen? Und blieben dabei doch solidarisch. Auf der Bühne Menschen, die sich ein ekstatisches oder bleiblutschwer trauriges Liebes- und Hassduell liefern. Klagende Töne, schreiender Zorn, stumpfes Schweigen. Stimmen, die sinnlich gurren, dunkelhart funkeln oder Aggressionsvokabular kotzen.

Seit geraumer Zeit arbeitet Luk Perceval am Thalia-Theater Hamburg an einer Bühnenfassung vom zwanzigbändigen Romankosmos »Les Rougon-Macquart« von Emile Zola. »Trilogie meiner Familie« heißt der Herausfilterungsversuch, der nach »Liebe« und »Geld« nun mit »Hunger« abgeschlossen wurde. Es ist die Zeit der ersten industriellen Revolution. Das Hässliche, Vulgäre, Rohe findet Eingang in die Literatur. Der Blick auf die Welt wird wissenschaftlich kühl. Lektionen im Geiste von Marx und Darwin. Im Knäuel dreier Dinge - dem Milieu des Menschen, seiner biologischen Verfasstheit und beider Konfrontation mit dem jeweiligen historischen Moment - verknotet sich das letztlich Unerforschbare in uns heftiger denn je.

»Hunger«. Aus den Romanen »Germinal« und »Bestie Mensch« werden zwei packende Stunden. Im Zentrum stehen die Brüder Étienne und Jacques, der eine Bergarbeiter, der andere Lokführer. Streikrebell der eine, gepeinigter Frauenmörder der andere. Beider Geschichte verzahnt sich. Der erhellende Klassenkampf trifft auf schwärzeste Liebespein. Der Psychothriller rammt sein Messer gleichsam in die Sozialtragödie. Die Familien explodieren. Der Fick geht um, dazwischen formieren sich die Streikbrecher. Und ein Zug jagt durch die Nacht, in dem Jacques eine Liebe findet, die mit dem Mann bald auch dessen Messer in sich spüren wird. Rafael Stachowiak gibt diesem Jacques eine weiche, leidende Gefährlichkeit, die sich in einer gepressten Ruhe verkapselt, um urplötzlich zum besinnungslos cholerischen Körper zu werden.

Die Bühne von Annette Kurz ist, wie in den vorangegangenen Teilen des Zyklus, eine Welle aus Holz. Welt überrollt Mensch. Diesmal hängen Grubenseile von der Decke. Im Gestänge der Hinterbühnenwand: Live-Musiker Sebastian Gille. Sein Saxophon kreischt Förderkörbe herbei, das Pfeifen von Lokomotiven, die Dissonanzen des Daseins. Dass der Mensch Trost nötig hat, macht ihn arm, dass er kaum Trost geben kann, macht ihn elend, aber dass ihm eine große Bedürftigkeit nach Trost immer wieder nachwächst, das macht ihn in Percevals szenischem Traktat reich und lässt, im Dreck, auch Glanz flackern.

Lange Erzählpassagen sind ein beklemmendes denkendes Sprechen, ein körperzehrendes Suchen nach einem Halt im Reißen des Schicksals. Ich sah abgekämpfte Selbstausgräber, Selbstverlorene, Selbstversessene. Hart, schweißtreibend gehen sich die Szenen an den Körper. Nie ein Ortswechsel, alles immer offener Kampf, offen einsehbar jede Einsamkeit. Das rennt ums Rund, das keucht sich in die Atemnot, die eine Lebensnot ist.

Perceval filetierte den großen Literaturleib, fügte Handlungspartikel aneinander, er springt, jagt, hält ein, springt weiter - ein Puzzle entsteht, ein Kaleidoskop, ein Labyrinth der familiären Verstrebungen öffnet sich, und freilich: Verwirrung ist nicht zu vermeiden; aber versuch nicht, zuzuschauen und gleichzeitig einen Stammbaum zu besteigen. Mählich schälen sich Fronten heraus.

Dieses opulent karge Theater glaubt fest daran, dass Sinn-Empfänglichkeit aus der Leere kommt. Spiel ist hier ein zitterndes oder bleiernes oder mit großen wunden Augen blickendes Geflecht von Bewegungen und Tönen, von Choreographie und Sprache. Dieses Theater lässt den Menschen zwischen vorbestimmter Vergeblichkeit und rebellischer Energie tänzerisch taumeln - in eine Mitte hinein, wo die Entfernungen zum Leben und zum Tod einander aufheben. Fast immer gemeinsam auf der Bühne: jene zwölf Akteure, die auch die beiden vorangegangenen Inszenierungen schleppten, stemmten, staunenswert groß machten. Immer trägt Oda Thormeyer als Bergmannsfrau ein Babybündel vorm Körper: schon die Zukunft wie totgeboren, ausgesetzt den Gewehrmündungen der Mächtigen; kalt wird sie daheim gerammelt, Ehejahre sind auch bei den Proleten Hausherrenjahre. Stephan Bissmeier ist Bergwerksdirektor und Bahnhofsvorsteher: die gutsituierte Gnadenlosigkeit und die geil-biedere Besitzgier. Der Hausjackendiktator. Gabriela Maria Schmeide geistert in weißem Wahnkleid durch die Szene. Sie ist das behinderte Kind, ist der Vogelschrei, das Kindsjammern, das Erzählfiepsen. Sie lächelt sich armausbreitend, wie in Zeitlupe, durch all die Aufgebrachten hindurch, wie ein kleiner barocker Engel, der sich als einziges Lebewesen im Kühlraum für Tote verirrt hat. So lächelt nur ein Mensch, dem die untergehende Welt nichts ausmacht, weil er sie nie in sein unantastbares Herz ließ.

Das Licht fahlt oder zerschneidet, Nebel macht Leben zur Schwade. Die Grubenlampen an den Stirnen der Bergarbeiter blenden dich wie eine gewaltsamer Akt der Erleuchtung. Als wüssten diese Erniedrigten und Beleidigten, die mitunter an der Rampe hocken wie Verschworene und Schutzlose zugleich, von einem furchtbaren Geheimnis der Welt(nicht)entwicklung, hinter das wir da unten, mit unseren existenziellen Beschwichtigungstechniken, erst noch kommen müssen. Vielleicht sehr bald kommen werden. Barbara Nüsse als alter Bergmann Bonnemort schlurft grandios beängstigend als eine Art durchlederter Seher durch die Szene, sagt Weltuntergang und Terror voraus, kann seine Genugtuung darüber nicht verhehlen und trägt doch einen unüberhörbaren Trauerflor in der brüchig knarrenden Stimme.

»Trilogie meiner Familie«. Meiner? Luk Perceval erzählt Zola und betrachtet sich selbst. Er kennt den Kapitalismus. Mit seinen Eltern, Binnenschiffern, fuhr er als Kind oft auf dem Rhein, von Antwerpen nach Duisburg, »auf der Hinfahrt mit Tropenholz aus Afrika und zurück mit Stahl aus dem Ruhrgebiet«. Später ging das Schiff unter, »wir waren, ganz einfach ausgedrückt, arm.« So wachsen Fühler in die Gesellschaft hinein. Wenn man weiß, dass Perceval von seinen vielen deutschen Jahren als »einer wundervoll erfüllten Zeit« spricht, in sehr absehbarer Zeit aber weggeht und bei Milo Rau in Gent ein neues internationales Ensemble aufbaut, wenn man weiß, dass er das Stadt- und Staatstheater hierzulande »in der Eventfalle« gefangen sieht - wenn man das alles weiß und schon jetzt über diesen Verlust traurig ist, dann meint man, solche Wehmut auch auf der Bühne zu sehen. Es ist, als träume dieses Theater von einer Spiritualität, die sich mit Quotenhatz (also Stadttheater?) nicht verträgt. Das gibt der Aufführung etwas kraftvoll Hermetisches. Als sei ein Unverständnis, das er auslöst, die wahre Anerkennung für den Künstler. Nachdem »Hunger« im Sommer bei den Ruhrfestspielen uraufgeführt wurde, war in einer Zeitung vom »Best of« der Zola-Romane zu lesen - dies genau ist die gängige Geistlosigkeit.

Dieses Theater leidet an der Wahrheit: Stets ist der Mensch wilder als die Zivilisation, die er lebt; stets ist er rückständiger als der Fortschritt, den er betreibt; Existenz - das ist der schleichende Konkurs, der aber fortwährend und selbsttäuschend als Gründung angemeldet wird. Der mystisch befeuerte Flame Perceval sucht in seinem Regiewerk nach dem Punkt, da Helle und Hölle des Strebens wie in einem Brennspiegel zu jenem Punkt kommen, der das Gute und Böse ununterscheidbar macht. Was den Kampf gegen das Böse - der unbedingt ein sozialer Kampf ist - nicht erledigt, sondern glühend anfacht. Freilich mit der gleichen Konsequenz: einem Doppelgesicht. Dem Aufstand sitzt sofort die Ohnmacht im Nacken, der Hoffnung die Verzweiflung. Perceval wirft uns mit seiner Zola-Version eine verderbte Szenerie hin, die doch ergreifend und rüttelnd gegenwärtig wirkt. Und drückend.

So fällt Kunst aus der Zeit, um auf andere Weise wieder hineinzustürzen. Hineinzustürzen und doch auch aufzustehen. Selten war das so atemberaubend: ein proletarisches Lohen, aber ohne jeden falschen Ton und doch ebenso klar und deutlich - ein Kunstraum. Sebastian Rudolph als Ètienne fasziniert als Arbeiterführer, der zutiefst verstört und starr auf die Geschehnisse um seinen Bruder Jacques starrt, und der nur die Arme gegen die unsichtbaren Gewehre der Polizei öffnen muss, um den Eindruck einer Kraft zu erzeugen, die mit einer großen Sehnsucht den Dreck überfliegt: »Ich träume von einer Wiedergeburt des Arbeiters, ohne dass auch nur ein Tropfen Blut vergossen wird.«

Nächste Vorstellung: 15. Dezember; am 12. November alle Teile der Trilogie

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