nd-aktuell.de / 09.11.2017 / Kultur / Seite 17

Ja, mach nur einen Plan

Sturm auf den Reichstag

Christian Baron

Für revolutionären Optimismus sind normalerweise die ganz Jungen und die sehr Betagten zuständig. Vergleichsweise selten gibt es Menschen, die ein mittleres Lebensalter erreicht haben und trotz brummdummer Sprüche (»Wer mit 20 kein Kommunist ist, hat kein Herz. Wer es mit 40 noch ist, hat keinen Verstand«), dem ewig lockenden Zynismus oder den Bequemlichkeiten des Angekommenseins ihre kritische Haltung bewahren konnten.

Der Theaterregisseur Milo Rau ist 40 Jahre alt und weit davon entfernt, das globale Elend im Wohneigentumsidyll zu verdrängen oder es als sarkastischer Großstadtlinker zu erdulden. Nein, er hat am vergangenen Wochenende in der Berliner Schaubühne ein »Weltparlament« einberufen (siehe »nd« vom 3.11.). Drei Tage lang debattierten mehrere Dutzend »Lobbylose« über alle Fragen, die sich im Bereich der Menschenrechte verorten lassen: Krieg und Gewalt, Grenzen und Migration, Rassismus und Sexismus, Reichtum und Gerechtigkeit, Ökologie und das Verhältnis zu Tieren, nichts blieb undiskutiert. Eine »Charta für das 21. Jahrhundert« wollten die Beteiligten entwickeln - und sie genau 100 Jahre nach dem oktoberrevolutionären Sturm auf das Winterpalais bei einem »Sturm auf den Reichstag« in Berlin am frühen Dienstagabend präsentieren.

Am Ende geriet die Inszenierung so realistisch, dass sich das Parlament in einigen Formulierungen uneinig war und die Vollendung der Charta nun noch ein paar Wochen warten muss. Das starke Bild aber, den symbolischen Sturm auf eines der mächtigsten Parlamente dieser Erde, das wollte Rau unbedingt liefern. Und er hielt Wort: 200 überwiegend ganz junge oder sehr betagte Menschen versammelten sich auf der Wiese vor dem Reichstag. Nach kurzen Statements unter anderem eines in Südamerika durch VW malträtierten Arbeiters bat Rau die Anwesenden, zu einer Linie zu treten, sich in Gruppen aufzustellen und auf Kommando loszulaufen.

Dass der Pulk direkt in eine versprenkelte Riege dauerprotestierender »Reichsbürger« stürmte, das steigerte die Stimmung an diesem kalten Ort noch einmal. Damit erhielt die Aktion eine ermutigende Funktion für jene, die sich zuvor 20 Stunden lang die Köpfe heiß geredet hatten. Was bleibt, ist nicht nur die Gewissheit, dass sich noch immer viele kluge Leute nicht mit dem Zugrundegehen dieses Planeten abfinden wollen. Es bleibt auch die Erkenntnis, dass Bertolt Brechts »Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens« aus der »Dreigroschenoper« nicht an Gültigkeit eingebüßt hat: »Ja, mach nur einen Plan! Sei nur ein großes Licht! Und mach dann noch ’nen zweiten Plan, Gehn tun sie beide nicht.«

In einem machten es sich Rau und die Aktivisten zu leicht: Sie zeigten Plakate, auf denen »Demokratie für alle und alles« stand. Dabei ist die Frage, ob die totale Demokratie alle Probleme lösen kann, längst nicht geklärt. Ist der Umstand, dass das deutsche Parlament - dessen Politik weite Teile der Weltbevölkerung beeinflusst - nur einen Bruchteil der Betroffenen repräsentiert und die globalen Fragen gar nicht lösen will, wirklich auf ein Demokratiedefizit zurückzuführen? Oder handelt es sich dabei nicht vielmehr um ein Defizit der Demokratie?