nd-aktuell.de / 09.11.2017 / Kultur / Seite 16

Ein altes Haus in Moskau und 100 Jahre russischer Geschichte

⋌Irmtraud Gutschke

Ilja Muromzew liest Zeitung auf dem Klo, Antonina Simonowa ist beim Wäschewaschen. Da rauscht »Madame Kommissarin« an: »Ihre neuen Seidenstrümpfe wären über Muromzews Primuskocher angekokelt.« Die Stimmung wird gleich besser, als Olja Petuchowa und Marussja Muromzewa ein Grammofon hereintragen: »Auf, jetzt wird Tango getanzt.«

Turbulent geht es zu in der Gemeinschaftsküche dieser Wohnung in Moskau, die der Arzt Ilja Muromzew 1902 mit seiner Familie bezogen hat. Inzwischen - das Bild gehört zum Jahr 1927 - leben nach mehreren Einquartierungen schon 16 Personen dort. Dabei wird die Familie der Muromzews mit der Zeit auch immer größer. Und 2002 gibt es ein tolles Fest zum 92. Geburtstag der Ururgroßmutter, Babuschka Marussja.

»In einem alten Haus in Moskau. Ein Streifzug durch 100 Jahre russische Geschichte«: Was für ein erstaunliches Buch! Alexandra Anna Desnitskaya hat detailreiche Bilder gemalt, die man lange, sehr lange und immer wieder betrachten, ja, aus denen man im Kopf einen Film machen kann. Denn da ist immer Aktion - und eine Gemeinschaftlichkeit, wie wir sie hierzulande kaum kennen. Ein Miteinander, das freilich nicht konfliktfrei ist, weil in dieser »Kommunalka« unterschiedliche Charaktere aus verschiedenen sozialen Schichten zusammentreffen.

Geschichte, vom konkret Alltäglichen her gesehen: Auf nur 60 Seiten gelingt es Alexandra Litwina, einen großen russischen Familienroman zu entfalten. Damit uns die Vielzahl der Personen nicht verwirrt, werden sie am Anfang und am Schluss des großformatigen Buches auf jeweils zwei Doppelseiten in Wort und Bild vorgestellt. Man wird also beim Lesen und Schauen immer mal wieder blättern. Wobei die beiden jungen Künstlerinnen im Privaten auch gesellschaftliche Vorgänge spiegeln wollten. Und das nicht, wie so oft, von heutigen Ansichten und Erfahrungen aus, sondern aus dem einst Gegebenen. Dafür wählten sie jeweils unterschiedliche persönliche Sichten. Vom Küchentrubel am 23. Mai 1927 erzählt uns zum Beispiel der zehnjährige Petja Simonow, den wir im Vordergrund sehen. Was »NÖP« und »emanzipieren« heißt, weiß er schon und fühlt sich mit seinem Pionierhalstuch sogar ein bisschen den Erwachsenen überlegen: »Kein Klassenbewusstsein im Leib, die Leute!«

Dem folgt, wie auch zu den Jahren 1914, 1919, 1937, 1945, 1953, 1961, 1973, 1987 und 1991, je eine Doppelseite, zu 1973 sind es sogar zwei, auf denen in Bild und Text Gegenstände und Vorgänge des damaligen Lebens erklärt werden. Primuskocher und NÖP, Wimperntusche von »Oreal« und ein Mädchen, das Pilot werden will, Praskowja Simonowa, Petjas Mutter, die als Straßenbahnfahrerin »Aktivistin der Arbeit« wurde, Jessenin und der Staatsplan zur Elektrifizierung - nicht von oben herab, sondern von innen heraus wird versucht, eine Vorstellung vom Leben 1927 zu geben.

Und so geschieht es auch für andere Zeiträume. Stalin, der Zweite Weltkrieg, die Kubakrise, Solschenizyn, Sacharow, Gorba-tschow, der Zerfall der UdSSR - und vor diesem Hintergrund Alltag in seinen Verwicklungen. Ein Buch, das Geschichte lebendig macht, für Erwachsene und, mit deren kundiger Begleitung, sogar schon für Kinder ab zwölf. Irmtraud Gutschke

Alexandra Litwina/Anna Desnitskaya: In einem alten Haus in Moskau. Ein Streifzug durch 100 Jahre russische Geschichte. Aus dem Russischen von Thomas Weiler und Lorenz Hoffmann. Gerstenberg. 60 S., geb., 24,95 €.