Sich sorgen um andere

Ulrich Brand und Markus Wissen kritisieren die imperiale Lebensweise

  • Gerhard Klas
  • Lesedauer: 4 Min.

Energie, Verkehr, Fleischkonsum: Seit den 1970er Jahren hat sich der globale Ressourcenverbrauch verdreifacht - trotz Umweltbewegung. Hinzu kommt eine Krise des globalen Kapitalismus, der ohne permanente Gewinne nicht bestehen kann und für seine Profite immer weniger Rücksicht auf Mensch und Natur nimmt. Unter »Imperialen Lebenswelten« verstehen Ulrich Brand und Markus Wissen, die beide an der Universität zu Wien lehren und forschen, ein politisches System, dessen Mitglieder Wohlstand auf Kosten anderer generieren und dies als nicht hinterfragbare Normalität begreifen.

Nirgendwo werde der Widerspruch zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und politischem Handeln deutlicher als bei der Klimaerwärmung, heben die beiden Autoren hervor: Naturwissenschaftler schlagen Alarm - die Regierungen der westlichen Hemisphäre machen zwar viele Worte, tun aber viel zu wenig. Um der Dringlichkeit Rechnung zu tragen, sprechen die Wissenschaftler heute vom Anthropozän als neuer erdgeschichtlicher Epoche, in der der Mensch als entscheidender Faktor die Zukunft des Globus und seiner eigenen Spezies entscheiden wird.

Brand und Wissen aber ist der Begriff des Anthropozäns nicht differenziert genug. Denn die Menschheit ist kein homogener Block, sondern gekennzeichnet durch sehr unterschiedliche Interessen. Die Autoren benennen die unterschiedlichen Ausgangslagen: Menschen in den Wohlstandsgesellschaften des globalen Nordens verbrauchen im Durchschnitt deutlich mehr Ressourcen als etwa indigene Gemeinschaften oder Kleinbauern im globalen Süden. Erstere leben in der Vorstellung, Waren seien zeitlich und räumlich unbegrenzt verfügbar. Die sozialen und ökologischen Voraussetzungen der Produktion bleiben im Dunkeln oder werden ignoriert.

Wie sich die imperiale Lebensweise in die DNA der westlich orientierten Gesellschaften eingebrannt hat, beschreiben die beiden Politikwissenschaftler in einem historischen Rückblick. Bis ins 19. Jahrhundert war die Ausbeutung von Mensch und Natur vor allem den oberen Klassen vorbehalten. Erst mit der industriellen Massenproduktion von Waren ab den 1920er Jahren fand eine Verallgemeinerung der imperialen Lebensweise statt. Industrielles Fleisch, Eigenheim, Auto wurden Konsummaßstab, Klein- und Nebenerwerbslandwirtschaft zurückgedrängt. Fortwährendes Wirtschaftswachstum und Wettbewerb wurden zum Dogma der westlichen Gesellschaften.

Mit der Globalisierung seit den 1980er Jahren fand die imperiale Lebensweise auch eine territoriale Ausbreitung in die aufstrebenden Mittelschichten der Schwellenländer. Heute gehört etwa ein Viertel der globalen Bevölkerung zur Mittelschicht, die dem westlichen Konsum- und Produktionsmodell nacheifert. 2030 soll es nach Angaben der Vereinten Nationen schon die Hälfte der Weltbevölkerung sein. Eine bedrohliche Entwicklung, meinen die beiden Autoren, denn der Druck auf die verbleibende Hälfte wird wachsen. Sie zahlen den Preis für den rücksichtslosen Abbau von Ressourcen, der damit einhergehen wird. Schon heute, heißt es im Buch, »verkörpern die Geflüchteten das universelle Leiden an der imperialen Lebensweise«.

Scharf kritisieren Brand und Wissen die dominanten Konzepte einer ökologischen Modernisierung des Kapitalismus, die krampfhaft an der Illusion des ewigen Wachstums festhalten wollen. Die Autoren bestreiten, dass Wachstum durch intelligente Kreisläufe vom Naturverbrauch entkoppelt werden könne und zitieren dafür zahlreiche Beispiele. Eine Umstellung auf erneuerbare Energien bei weiter steigendem Konsum etwa würde nur zu einer Verlagerung führen: Energiepflanzen stehen in unmittelbarer Konkurrenz zu Feldfrüchten für die Ernährung. Und auch für Wind- und Solarstrom sowie für speicherfähige Großbatterien müssen seltene Erden und Metalle abgebaut werden, die Landraub und Vertreibung bedeuten.

Im letzten Kapitel setzt das Autorenduo der imperialen die solidarische Lebensweise entgegen. Nicht Verzicht, sondern Ersatz; nicht Diktatur, sondern Demokratie sei nötig, ganz im Sinne des lateinamerikanischen »buen vivir«, des guten Lebens. Weg von Erwerbsarbeit und Konsum, hin zu mehr Zeit für gesellschaftliche Teilhabe und dafür, sich um andere sorgen zu können, aber auch mehr Muße für Sport und Kultur. Der imperialen Lebensweise sei nur mit einer Umverteilung von Macht, Einkommen und Vermögen beizukommen, das gesellschaftliche Leben müsse ausgehend von menschlichen Bedürfnissen gestaltet werden und nicht von den Profiterwartungen einer globalen Minderheit. Ein erster Schritt, da werden die Autoren ganz konkret, wären hierzulande eine radikale Arbeitszeitverkürzung und ein bedingungsloses Grundeinkommen.

Wer die multiplen Krisen unserer Zeit verstehen will und Antworten sucht, muss dieses Buch lesen.

Ulrich Brand/Markus Wissen: Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. Oekom, 224 S., geb., 14,95 €.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal