Verhüllung und Entblößung

Gunter Preuß über das Grauen auf der Straße, nie versiegende Propagandaquellen und ein unfreies Volk, das sich in Freiheit wähnt

  • Gunter Preuß
  • Lesedauer: 7 Min.

Der Homo Sapiens hat es doch weit gebracht: vom Jäger und Sammler bis zum - wenn auch unfertigen und manchmal zutiefst fragwürdigen - Demokraten. Menschen denken sich von jeher immer wieder neue Maskeraden und Kostüme aus, um einerseits ihrem Frohsinn wie andererseits den Ausgeburten ihrer Gräuel, die tief und vermutlich unausrottbar in ihnen wurzelt, ein spielerisches Gepräge zu geben. Da macht auch der moderne Mensch, auf der gegenwärtig höchsten - mit erheblichen Dekadenzproblemen behafteten - Zivilisationsstufe im Kreis laufend, keine Ausnahme.

Vor einiger Zeit war es der sinnbildliche Horrorclown, der uns, in aller Öffentlichkeit seine Bühne findend, mit einer Kettensäge - vorgetäuscht oder allen Ernstes - ans Leder wollte. Auch waren vor eineinhalb Wochen anlässlich von Halloween wieder ähnliche Gespenstergestalten unterwegs. Parallel zu derart Erscheinungen von Übersättigung, mit Dummheit einhergehendem Leichtsinn oder kranker Psyche begegnet uns in aller Welt zunehmend ein bodenloses Grauen. Wir definieren es über den dehnbaren, absichtlich falsch verwendeten und politisch instrumentalisierten Begriff Terrorismus.

Aus dem Dunkel überraschend auftauchend überfällt uns das Grauen auf offener Straße, in öffentlichen Gebäuden wie zwischen Himmel und Erde, um nach angerichtetem Massaker sogleich wieder im Dunkel abzutauchen. Sozusagen im sorgfältig geplanten Vorbeigehen löschen Menschen, sich auf Glaubensgrundsätze oder/und auf eine Ideologie berufend, wahllos Menschen aus. Unter den Überlebenden soll sich Entsetzen breitmachen, ihre Lebensverhältnisse sollen destabilisiert werden. Ziel ist, mit der vermeintlichen oder auch realen Bedrohung das verhasste Gesellschaftssystem, den als unrechtmäßig empfundenen Staat und/oder die falsche Religion zu beseitigen, ein Regime nach eigener Vorstellung zu errichten und das eigene, als für einzig wahr erachtete Weltbild zu befestigen.

Es soll angemerkt sein, dass selbst die frühen Vordenker des Liberalismus dem Staat zur Durchsetzung seiner Interessen zubilligten, Andersdenkende mit dem Erzeugen und Verbreiten von Panik gefügig zu machen. Am Vorabend der Französischen Revolution von 1789 brandmarkten dann die Aufklärer - wie zwanzig Jahre zuvor schon Voltaire - den absolutistischen Staat mit seinen inszenierten Hinrichtungen von Delinquenten und deren Zerreißen bei lebendigem Leib als Terrorapparat. Ernüchternd, dass die Revolution mit ihrem Leitspruch »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« letztendlich erst durch den Verrat ihrer Ideale siegte. Die mit der Niederwerfung und Abschaffung der Monarchie ausgerufene Republik war bemüht, ihre Schreckensherrschaft ideologisch zu rechtfertigen. Robespierre, einflussreicher Wortführer des linken Flügels der Rebellen, erklärte, dass Terror ohne Tugend verhängnisvoll sei, die Tugend aber ohne Terror machtlos. Der Terror der Revolution war für ihn nichts anderes als Gerechtigkeit, prompt, sicher und unbeugsam.

Alsbald wurde aus dem radikalen Demokraten ein gnadenloser Diktator, der sich die Titulierung »Blutrichter der Revolution« wahrlich verdiente. Die maßgeblich von ihm und Gleichgesinnten zur Verteidigung von Wahrheit und Tugend losgelassene Bestie Terror - einmal entfesselt nicht zwischen Freund und Feind, Richtig und Falsch und Gut und Böse unterscheidend - verschlang mit Abertausenden auch ihn. Und doch war es die ihre eigenen Kinder fressende Revolution - als Akt radikaler Gewalt -, die den Federkiel in das von ihr angerichtete Blutbad tauchte und - zumindest auf dem sprichwörtlich geduldigen Papier - ein aufgeklärtes Welt- und Menschenbild und das Modell einer modernen Staats- und Gesellschaftsordnung festschrieb.

Was von Haus aus oder vorsätzlich kurzsichtigen Volksvertretern, demokratisch legitimiert, zur sich weiter radikalisierenden Ausübung von Gewalt in vielen Lebensbereichen einfällt, sind verstärkte innere wie äußere Aufrüstung, Gegengewalt und lückenlose Überwachung des öffentlichen wie privaten Lebens, auf einen Nenner gebracht: Krieg in all seinen widerwärtigen Erscheinungsformen. Jeder Krieg wird mit Mitteln geführt, die allesamt lebensfeindlich und somit unbedingt verwerflich sind. Selbst die Friedfertigsten von uns, wenn sie im Gemetzel nicht untergehen wollen, lässt er verrohen oder zerbrechen. Zu aller Ungerechtigkeit und zu allem Übel bringt jeder Krieg den Opfern mehr Unheil als den Tätern.

Die Aufarbeitung ursächlicher Probleme, das Eingeständnis eigener Mitschuld am verhängnisvollen Zustand des Weltbefindens, die dringend notwendigen grundsätzlichen gesellschaftlichen Veränderungen und das damit verbundene individuelle und gemeinschaftliche sich Neubegreifenmüssen - dies alles wird aus Furcht vor Prestige- und Machtverlust nur pro forma oder den eigenen Vorteil berechnend auf den Tisch gebracht, wenn es denn nicht von vornherein gänzlich darunter gekehrt wird. Die Begegnungen auf kleinem wie großem Parkett bewegen sich vorwiegend doch nur auf imprägnierter Oberfläche. Der Small Talk, den die Passions- und Berufsdiplomaten Kunst des kleinen Gesprächs nennen, dient vor allem dazu, dem Eigenwohl dienliche Beziehungen zu knüpfen und auszubauen. Je größer die Bühne, um so mehr wird salbadert und gelogen, dass sich die Balken biegen. Die Diplomatie, Balanceakt zwischen menschlichen Abgründen und Aushängeschild sozialer Beziehungen, befindet sich in diesem jahrtausendealten Istzustand. Nicht verwunderlich, dass angesichts solcher andauernder Unfähigkeit zur Aussprache dann selbst in Parlamenten die Fäuste fliegen und in aller Welt die Waffen tödlichen Klartext sprechen. Die mit Tamtam beschworene Vernunft ist für viele von uns nur eine schmückende Plakette.

Mir kommt da Wilhelm Hauffs allegorisches Märchen vom »Kalten Herz« in den Sinn. Wir erinnern uns: Der Not leidende Peter Munk hat als Sonntagskind beim Schatzhauser, dem guten Geist des Waldes, drei Wünsche frei. Deren Erfüllung bringt ihm erst einmal den ersehnten Wohlstand, den er aber in seiner Unbedachtheit und Gier nach mehr bald verspielt. Wieder im Elend begibt er sich in die Hände des allgewaltigen Holländer-Michel, von dem er sich das Herz aus der Brust nehmen und durch einen Stein ersetzen lässt. Dafür überhäuft der Böse ihn mit Reichtum. Doch mit seinem Herz verliert Peter auch alle Lebensfreude und jegliches Mitgefühl. Nur so viel empfindet er noch, dass er kein Mensch mehr und im vermeintlichen Glück tief unglücklich ist.

Im romantischen Märchen gelingt es dem noch jungen Mann mithilfe des wissenden Schatzhauser sein eigenes Herz zurückzugewinnen, alles wendet sich für ihn und die Seinen noch zum Guten. Doch das ist hier eben ein Märchen - eine Mär, Kunde aus anderer Welt und wundersame Begebenheit -, aber das Leben, wie wir wissen, spielt gemeinhin ganz anders mit uns.

Was ist das nur für ein in seiner Mehrheit sattes blindes Volk, das sich, in einer aufgeputzten Unfreiheit befindlich, in der Freiheit selbst wähnt? Von der unerreichbaren Schönen namens Freiheit, die uns, wohl wissend um unsere Besitzergreifungsgelüste, nur hier und da mal den kleinen Finger oder Auserwählten die Hand zum Kuss reicht, haben die meisten anscheinend keine andere Vorstellung, als sich mit ihr nach Lust und Laune (was wahrhaftig kein Synonym für Lebensfreude ist) vergnügen zu wollen. Für die Erfüllung der Wünsche, die den Wünschenden vielleicht einen kurzen Rausch, aber keine Erfüllung bringt, lassen sie sich anleinen, drücken beide Augen zu und sagen zu dem, was ihnen da täglich neu vorgekaut und schmackhaft aufgetischt wird »Ja und Amen«.

Wie der Kohlenmunk-Peter können sie den eigenen unfreien Hals nicht vollkriegen. Der zu Reichtum gekommene Köhlerjunge zeigte sich - im mit Hoffnung gesponnenen Poetengarn - selbst mit steinernem Herz noch empfindsam und lernfähig; aber von uns realen Menschen sind’s in Wirklichkeit nur wenige, die dergleichen Entwicklung (aus dem Spinnennetz) durchmachen und den Wandel schaffen. Nur unter ihnen könnten sich dann die und der befinden, denen ihr Hals selbst gehört.

Was uns da unablässig aus nie versiegenden Propagandaquellen an Beruhigungs- oder Aufputschmitteln eingetrichtert oder getröpfelt wird, macht die Wachen wacher und die Schläfrigen schläfriger. Den Ersteren verursacht es arge Blähungen und die Letzteren versetzt es in den vermeintlichen Überlebenszustand der drei weisen Affen (die so weise nicht sind). Deren Verneinungsformel sichert erfahrungsgemäß auf Dauer nicht den Frieden, sondern belässt uns im hier verdeckten und dort offenen Unfrieden. Und wir werden dann wieder - wie ungezählte Male zuvor - aufwachen, wenn es zu spät ist, und, den Spatz fest in der Hand, abermals beteuern, dass wir doch von alledem, was uns da tagein, tagaus umgab, nichts gewusst und nur immer an das Gute geglaubt haben.

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