nd-aktuell.de / 17.11.2017 / Politik / Seite 13

Prognosen wider die Realität

Auch im Nordosten hält das Geburtenwachstum an - die Politik ging vom Gegenteil aus

Schwerin. Der Babyboom in Mecklenburg-Vorpommern hält an. 2016 wurden im Nordosten 1,7 Prozent mehr Kinder als 2015 geboren, wie das Statistische Bundesamt am Mittwoch auf Basis vorläufiger Daten mitteilte. Das stoppt zwar nicht den Bevölkerungsrückgang, denn die Zahl der Sterbefälle stieg um 0,9 Prozent auf rund 20 000. Damit starben, wie schon in den Jahren zuvor, in Mecklenburg-Vorpommern mehr Menschen als geboren wurden. Doch der sogenannte Sterbeüberschuss verringerte sich um 0,7 Prozent auf rund 7000. Und: Das Land ist auf den Geburtenanstieg schlecht vorbereitet.

Dabei stieg die Zahl der Geburten in Mecklenburg-Vorpommern schon seit einigen Jahren. 2014 erblickten 12 830 Babys das Licht der Welt, im Jahr darauf waren es 13 298 und 2016 ging es weiter aufwärts in Richtung 14 000. Auch Heiraten liegt im Trend: Die Zahl der Eheschließungen nahm 2016 um 5,1 Prozent auf rund 12 000 zu, wie die Statistiker berichteten.

Doch die Landespolitik hat ihre Entscheidungen jahrelang auf der Grundlage gegenteiliger Annahmen gefällt. Die 4. Bevölkerungsprognose aus dem Jahr 2008 ging von einem nahezu stetigen Rückgang der Geburten ab dem Basisjahr 2006 aus, als 12 638 Babys im Nordosten das Licht der Welt erblickten.

Schon von Anbeginn stimmten die Annahmen nicht mit der Wirklichkeit überein: 2007 registrierten die Behörden 12 786 Geburten, prognostiziert waren 12 569. Im Jahr darauf wurde die Marke von 13 000 geknackt, während die Experten einen weiteren Rückgang angenommen hatten. Für das Jahr 2015 waren nur noch 10 870 Geburten vorhergesagt worden, für 2016 mit 10 622 noch weniger. Im weiteren Verlauf bis 2030 sollten jährlich nur noch um die 8000 Babys im Nordosten geboren werden. Ein sterbendes Land.

»Es hat sich ganz anders entwickelt«, sagte der Geschäftsführer des Städte- und Gemeindetags, Andreas Wellmann, der dpa. Der viel positivere Verlauf sei durch den Flüchtlingszuzug nur noch verstärkt worden. Das Problem falscher Prognosen: Die Politiker in Land und Kommunen treffen auf ihrer Basis Entscheidungen, wie Schließung, Erhalt oder Neubau von Schulen und Kitas oder auch Verwaltungsreformen. In Schwerin etwa gibt es einen Schul- und Hortplatzmangel - plötzlich sind viel mehr Kinder da als geplant.

Wellmann wünscht sich Bevölkerungsprognosen, die mehr mögliche Szenarien betrachten und häufiger aktualisiert werden. »Wenn ich merke, meine Annahmen stimmen nicht und es entwickelt sich anders, dann muss ich ran, weil davon Planungsprozesse abhängen«, sagte er.

Die vorerst letzte Überarbeitung erfuhr die 4. Bevölkerungsprognose im Jahr 2012. Sie geht zum Beispiel für die Landeshauptstadt Schwerin von einer Abnahme der Bevölkerung von 95 220 im Jahr 2010 auf 92 341 im Jahr 2030 aus. In Wirklichkeit erfreut sich Schwerin eines Bevölkerungswachstums. Im Juni 2017 lebten dort nach Angaben der Stadtverwaltung 98 548 Einwohner. Die 5. Bevölkerungsprognose ist laut Infrastrukturministerium in Arbeit.

Das Ministerium teilte auf Anfrage mit, dass in die Überarbeitung der Prognose von 2012 auch neue Geburten-Vorhersagen aufgenommen wurden. Für 2014 traf diese neue Vorhersage fast genau zu, für 2015 lagen die Experten im Vergleich zur Realität bereits 4,2 Prozent zu niedrig, 2016 um 6,8 Prozent. Sie vermuten, dass ein großer Teil der Entwicklung auf Flüchtlinge zurückzuführen ist und nicht zwingend langfristig anhält.

Die Zahl der Geburten sei abhängig von der Anzahl der Frauen im gebärfähigen Alter, erklärte eine Ministeriumssprecherin. Diese gehe stetig zurück und werde auch in Zukunft nicht steigen, »so dass perspektivisch absolut die Anzahl der Geburten leicht zurückgehen wird, falls nicht wesentlich mehr Kinder pro Frau geboren werden«. dpa/nd