nd-aktuell.de / 22.11.2017 / Kultur / Seite 14

Was heißt das: »Deutschsein«?

Maxi Obexer hat ihre Gedanken zum Thema Flucht und Einwanderung in einen autobiografischen Romanessay gefasst

Maria Jordan

Eine Frau sitzt im Zug, auf dem Weg nach Berlin, wo sie Jahrzehnte nach ihrer Auswanderung und unzähligen Anträgen und Formularen endlich ihren deutschen Pass in Empfang nehmen will. Im Zug bemerkt sie eine Gruppe junger Geflüchteter, die versuchen, nach Deutschland zu gelangen.

Die Frau kommt aus Italien, genauer gesagt, aus Südtirol. Auf ihrer letzten Reise als Italienerin, bevor sie offiziell deutsche Staatsbürgerin wird, lässt sie ihre Einwanderungsgeschichte Revue passieren: Als junge Frau entschloss sie sich, ihre Heimat zu verlassen und nach Berlin zu gehen. Sie studiert an der Universität, wird schließlich Regieassistentin beim Theater. Sie vermisst ihren Hund, den sie bei den Eltern zurücklassen musste. Sie spürt die Nachbeben der Wende, sie passt für ihre Freunde in keine richtige Schublade. Statt als Ossi oder Wessi bezeichnet man sie als »Südin«. Sie wird Teil des feministischen »Gender-Cafés«, glaubt nicht an Wittgensteins Sprachtheorie und liebt Frauen.

Der erzählerische Teil von Maxi Obexers Romanessay ist sprunghaft, lose Erzählfäden werden aufgenommen und wieder fallen gelassen. Personen verschwinden so schnell, wie sie auftauchen - ohne Vorstellung, ohne Abgang. Mal ist es eine Liebschaft, die über eine oder zwei Seiten geschildert wird, mal tauchen andere Ein- beziehungsweise Auswanderer auf, die die Protagonistin in Berlin trifft und mit denen sie über das Fremdsein und ihre Erfahrungen in der Wahlheimat spricht.

Die Geflüchteten im Zug tauchen immer kurz auf, um an den Kontext zu erinnern, in dem der argumentative Teil des Romanessays steht: Europa heute - mit offenen Grenzen und doch wie eine Festung. Jedoch lebt die Geschichte der Geflüchteten nur von Beobachtungen aus der Ferne: Sie steigen ein, schlafen, werden irgendwann von Grenzpolizisten aus dem Zug geholt. Was mit ihnen passiert, woher sie kommen und wohin sie wollen - diese Fragen bleiben offen.

Ihr eigenes Schicksal - das Buch ist autobiografisch - und das der Geflüchteten nimmt Obexer als Anlass, ihre Gedanken über das heutige Europa aufzuschreiben. Anhand ihrer Geschichte beschreibt sie das bürokratische Labyrinth, das die eigentlich so unkompliziert angedachte innereuropäische Migration tatsächlich ist. Es geht um das »Deutschsein«, Obexer fragt sich: Was ändert eigentlich ein deutscher Pass? Als Deutsche wird sie dennoch nicht gesehen, nicht einmal - oder ganz besonders nicht - von ihrem eigenen Umfeld. Sie hinterfragt die Bedeutung des Nationalstaats in einem Konstrukt offener Grenzen. Und sucht die Antwort auf die Frage, wie ein »freies Europa« eigentlich aussehen könnte.

Der autobiografische Teil des Essays und die Fragen zu Migration, Integration und Nationalität, die Obexer in diesem Zusammenhang aufwirft, sind spannend. Doch hätte sie, bei einer Textlänge von ohnehin nur rund 100 Seiten, vielleicht dabei bleiben und den Teil stärker ausarbeiten sollen.

Denn der Sprung zur europäischen Flüchtlingspolitik seit 2015 und die Verknüpfung ihrer persönlichen Einwanderungsgeschichte mit der mutmaßlich syrischer Flüchtlinge scheint erzwungen. Flucht ist nicht gleichzusetzen mit Einwanderung. Und auch wenn es, besonders was den Einbürgerungsprozess angeht, Parallelen gibt, so bleibt der argumentative Zusammenhang bei Obexer etwas dünn. Stattdessen bekommt man das Gefühl, die Autorin wollte die Fluchtproblematik unbedingt noch in ihrem Roman unterkriegen. Die Überlegungen und Verbesserungsvorschläge zur Flüchtlingspolitik sind nicht grundlegend falsch, bleiben aber oberflächlich. Es sind Ideen, die schon vielfach geäußert und gehört wurden. Und so verschenkt Obexer das Potenzial ihres Romanessays, indem sie zu viel auf einmal will. Sie wechselt vom Besonderen, nämlich ihrer eigenen Geschichte, ins Beliebige: ihre allgemeinen Gedanken zum Thema Flucht.

Maxi Obexer: Europas längster Sommer. Roman. Verbrecher-Verlag, 112 S., geb., 19 €.