nd-aktuell.de / 25.11.2017 / Kultur / Seite 54

Ein Generalangriff ohnegleichen

Aram Mattioli hat eine Geschichte der Indianer Nordamerikas verfasst

Rudolf Walther

Wenige historische Tragödien sind für lange Zeit derart stark in Vergessenheit geraten wie die mit der Kolonisierung Nordamerikas einhergehende Vertreibung und Ermordung der Indianer. Während sich die Zahl der Kolonisatoren dort im 19. Jahrhundert von fünf Millionen auf 75 Millionen erhöhte, dezimierte sich im gleichen Zeitraum die der Native Americans, der indigenen Bevölkerung, von 600 000 auf unter 240 000, geschuldet einem landräuberischen, kulturvernichtenden und mörderischen »Generalangriff«, der in der Geschichte seinesgleichen sucht, betont Aram Mattioli. Doch während Westernromane und Westernfilme sich ungebrochener Beliebtheit erfreuen, wurde und wird dem Schicksal der Indianer wenig Aufmerksamkeit geschenkt und dieses in den genannten Genres weiterhin verharmlost.

Aram Mattioli: Verlorene Welten. Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas 1700 – 1910.[1]
Klett-Cotta, 464 S., geb., 26 €.

Da der Angriff auf das Eigentum, die Kultur und das Leben der einheimischen Bevölkerung jedoch keinem Masterplan folgte, so Mattioli, träfen die Definitionen von »Völkermord« und »Genozid«, wie sie in der UN-Konvention vom 9. Dezember 1948 fixiert sind, auf das Geschehen in Nordamerika von der Gründung der USA bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht zu. Obwohl alle US-Regierungen - in durchaus unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlicher Konsequenz - kriminell indianerfeindlich waren.

Falsch sei auch, so Mattioli, die Rede von »den« Indianern. Die indigene Bevölkerung Nordamerikas zerfiel in »ebenso verschiedene Nationen« wie die Europas. Indianische Nationen wurden jedoch nie als Nationen anerkannt, sondern galten als »abhängige Nationen« (»dependent nations«), die meistens als »Mündel« bevormundet wurden. Mit diesen schloss man zwar Verträge ab, die allerdings von den Kolonisatoren nur selten eingehalten wurden.

Mangels einer starken Staatsgewalt entwickelte sich in Nordamerika eine Doppelherrschaft von nur punktuell durchsetzungsfähiger Staatsordnung und mörderischer Gewaltwillkür der weißen Siedler, die die indigene Bevölkerung permanent bedrohten. Schon vor der Unabhängigkeitserklärung der USA beteiligte sich deren Elite - von Benjamin Franklin bis zu George Washington und Thomas Jefferson - an der Spekulation mit indianischem Land, entgegen einem Dekret des englischen Königs vom 7. Oktober 1763, das für Landkäufe ein britisches Monopol deklariert hatte.

Washington, der erste Präsident der USA, führte einen Vergeltungskrieg gegen die Irokesen und befahl am 31. Mai 1779 »die totale Zerstörung und Verwüstung« ihrer Siedlungen. Generalmajor John Sullivan erledigte mit seinen 4600 Mann die »Drecksarbeit«, vertrieb die Irokesen von ihrem angestammten Territorium und lieferte sie dem Hungertod aus. Hinter dem »Sonntagsgesicht der neuen Republik« (Mattioli), der föderalen Vereinigten Staaten von Amerika, deren Verfassung die Menschenrechte kodifizierte, entfaltete sich eine immense »Gewaltkultur«. Siedler verkauften Land, das ihnen nicht gehörte, und vergingen sich an den Indianern; der Staat ließ sie straffrei gewähren.

Mit erzwungenen Landabtretungen und umfangreichen Umsiedlungen in abgelegene, unfruchtbare Regionen sollten die indianischen Nationen diszipliniert und sesshaft gemacht werden. Bis 1850 wurden alle indianischen Nationen, die östlich des Mississippi lebten, nach Westen vertrieben. Als dortige Goldfunde einen Goldrausch auslösten, Siedler und Abenteurer aller Couleur gen Westen strömten, begann ein regelrechter Ausrottungskrieg gegen die indianischen Nationen. Auch der Eisenbahnboom der 1860er Jahre zeitigte verheerende Folgen. Der Bedarf an Bisonleder explodierte, mit dem Ergebnis, dass die Büffel, Lebensgrundlage der indigenen Bevölkerung, bis 1880 fast ausgerottet wurden. Eine Hungerkatastrophe brach über die Native Americans herein.

Nach der Beraubung und Vernichtung ihrer Existenzgrundlagen wurden die indianischen Nationen mit Knebelverträgen in Reservate verdrängt, wo sie mangels natürlicher Ressourcen von staatlicher Alimentierung abhängig und gleichzeitig einem wachsenden Assimilationsdruck ausgesetzt wurden: Aus den »Wilden« sollten durch staatliche Erziehungs- und Umerziehungsmaßnahmen »Farmer« und »Lohnarbeiter« gemacht werden.

Auch Theodore Roosevelt, von 1901 bis 1909 Präsident der USA, bekannte sich zur landesüblichen Indianerfeindlichkeit: »Ich gehe nicht so weit zu denken, dass die einzig guten Indianer tote sind, aber ich glaube, dass es auf neun von zehn zutrifft … Der übelste Cowboy besitzt mehr Moralgrundsätze als der Durchschnittsindianer.«

Aram Mattioli beleuchtet mit seinem herausragenden Buch das - neben der Sklaverei - dunkelste Kapitel der US-amerikanischen Geschichte.

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  1. https://www.nd-aktuell.de/shop/article/9783608949148