nd-aktuell.de / 25.11.2017 / Politik / Seite 24

Nicht aller Laster Anfang

Bildungsrauschen

1932 hat der walisische Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell (1872-1970) die denkwürdige Schrift »Lob des Müßiggangs« herausgebracht. In dieser bezeichnet er die Arbeitsethik der Industrieländer von der Technik als überholt (think-ordo.de).

Dem Zeitgeist entsprechend, war die Schrift visionär. Dank dem technischen Fortschritt könne man die »notwendigen Dinge des Lebens« innerhalb eines Vier-Stunden-Tages erwirtschaften. Alles andere führe zur Überproduktion und Übersättigung des Marktes. Bei einem Vier-Stunden-Tag würde »jeder Wissbegierige seinen wissenschaftlichen Neigungen nachgehen können und jeder Maler malen, ohne dabei zu verhungern (…) Schriftsteller brauchten nicht durch sensationelle Reißer auf sich aufmerksam machen, um wirtschaftlich unabhängig zu werden (…) Menschen, die sich als Fachleute für eine besondere wirtschafts- oder staatspolitische Phase interessieren, werden ihre Ideen entwickeln können, ohne dabei im luftleeren akademischen Raum zu schweben, was der Arbeit der Volkswirtschaftler an den Universitäten so häufig einen wirklichkeitsfremden Anstrich gibt (…) Lehrer werden sich nicht mehr erbittert bemühen müssen, mit routinemäßigen Methoden Dinge zu lehren, die sie in ihrer Jugend gelernt und die sich in der Zwischenzeit vielleicht als falsch erwiesen haben.«

Russel war überzeugt, dass Muße den Menschen gut täte. Durch ihren Genuss würden »nervöse Gereiztheit, Übermüdung und schlechte Verdauung« abnehmen. Die Freizeit werde aktiv gestaltet, man gebe sich nicht mehr der »passiven und geistlosen Unterhaltung« hin. Russell meint, dass durch die dann gewonnene Zeit für Muße die »Kriegslust aussterben« würde. Bringe doch der Krieg »lang dauernde, harte Arbeit« mit sich. Das, was am meisten gebraucht werde, sei »Gutmütigkeit«, die man durch »Wohlbehagen und Sicherheit« erhalte und nicht durch anstrengendem Lebenskampf. Die technischen Voraussetzungen seien gegeben, jetzt müsse man noch so »gescheit« werden, denen die harte Arbeit zu überantworten (zeitpunkt.ch).

Als Russel diese Gedanken zu Papier brachte, hatte er sich bereits mit dem Grundlagenwerk Prinzipia Mathematica einen Namen gemacht und seit 1914 gegen den Krieg engagiert. In den 1920er Jahren erstreckte sich sein Interesse dann auf soziale Fragen und Pädagogik. Zusammen mit seiner Frau gründete er die experimentell und libertär ausgerichtete Beacon Hill School, um seine Kinder nicht dem herkömmlichen Schulsystem auszusetzen. In dieser Zeit verfasste er auch diverse pädagogische Schriften. Nach dem Friedensnobelpreis (1950) verstärkte er seine politische Arbeit und gründete 1963 die »Bertrand Russell Friedensstiftung«, die ab 1966 die Russell-Tribunale ausrichtete (vismath.eu). Lena Tietgen