nd-aktuell.de / 25.11.2017 / Kultur / Seite 10

Lob der Paradoxe

Mäzen und Kunstexperte, Entführungsopfer und Essayist: Jan Philipp Reemtsma wird 65

Hans-Dieter Schütt

Er ist einer der klügsten Essayisten. Ist ein skeptischer Humanist, der seine Souveränität aus dem bezieht, was Albert Camus als »Voraussetzung für wahre Freiheit« bezeichnete: Geld. Ohne höheren Haufen Geld könne man sich mehr oder weniger unabhängig machen, aber nicht wirklich frei.

Reemtsmas entscheidender Schritt war, sich die Freiheit zu nehmen, den familiären Erbteil am großen Zigaretten-Unternehmen zu verkaufen - fortan galt für den 1952 in Bonn Geborenen: »Während andere Leute in einem Beruf arbeiten, der Geld einbringt, bin ich glücklich in geistigen, sozialen Tätigkeiten, die mich Geld kosten.« Er hat das Hamburger Institut für Sozialforschung gegründet, leitete es bis 2015; er hat dem geliebten Dichter Arno Schmidt - diesem armen, einsam-stolzen Außenseiter - den Lebensunterhalt gesichert und nach dessen Tod dem Werk eine erhaltende Stiftung gegründet - und dieses Werk zu Suhrkamp gebracht. 1996 wurde Reemtsma entführt, nach 33 Tagen für 30 Millionen Mark Lösegeld freigelassen. Der Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Hamburg hat Entschädigungen für Zwangsarbeiter eingeleitet; kurz vor der Jahrtausendwende erregte er Deutschland mit der anklagenden »Wehrmachtsausstellung«; einige nicht korrekt beschriftete Fotos zwangen zu wissenschaftlicher Neuprüfung und Korrektur.

Verbrechen und Gerechtigkeit sind die Themen des Kunstexperten und Mäzens. Reemtsma hält weniger Gewalt im öffentlichen Raum für einen der Evolution und der jahrhundertelangen Geschichte mühsam abgerungenen Erfolg - der aber nie gesichert ist. Es gibt eine Gewalt, er nennt sie »autotelisch«, die sich selbst genügt, deren Ausbruch aber nicht einfach ins Pathologische abgedrängt werden kann, sondern in Verbindung gebracht werden muss mit den Schreckensmöglichkeiten im ganz normalen Menschen. »Wenn man Areale schafft, wo autotelische Gewalt ausgeübt werden kann, wird sie ausgeübt werden, immer wieder.«

Er hat die Extreme des 20. Jahrhunderts untersucht, Weltkriege und Juden-Ermordung, roten Terror und Militärdiktaturen - für jedes politische Handeln gebe es »Freiheitsspielräume und also die Dimension der Verantwortung«. Eine klare Absage ist dies an die Rechtfertigungsphilosophie des Befehlsnotstandes und der weltpolitischen Sachzwänge. Man mag in politischer Prüfung versagen, nur darf man die tödliche Verwundung nicht zulassen: jene spätere, so elende Behauptung eines reinen Gewissens. So mancher, der stolz betont, er wolle sich durchhalten, entblößt damit nur einen unbelehrbaren Geist. Blickt in den Spiegel und sagt Gesicht zu dem, was Maske wurde.

In einem seiner Essays hat Reemtsma begründet, warum Politikers Intellekt naturgemäß Schwierigkeiten mit Kunst hat: Kunst ist »Koexistenz mit Paradoxen«. Wie aber soll das Bewusstsein für die Frag-Würdigkeit alles Bestehenden und Programmierten ausgerechnet im Kopf jener Platz finden, deren Sehnen ganz »im Anwenden von Rezepten« liegt? Am Sonntag wird Jan Philipp Reemtsma 65 Jahre alt.