nd-aktuell.de / 25.11.2017 / Berlin / Seite 13

Spuren der Gewalt

Opfer von Vergewaltigungen können vertraulich und ohne Anzeige Beweise sichern lassen

Marie Frank

Die Idylle trügt. Nicht nur im brandenburgischen Neuruppin, wo anlässlich des an diesem Samstag stattfindenden Internationalen Tags zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen eine Woche lang Brottüten verteilt werden, die über lokale Beratungs- und Hilfsangebote für Frauen und Opfer sexualisierter Gewalt informieren. Auch im Rest von Deutschland sieht es nicht besser aus: Jede vierte Frau hat bereits Gewalterfahrungen als Opfer gemacht, jede siebte Frau erlebt strafrechtlich relevante sexualisierte Gewalt. Die Dunkelziffer dürfte noch um einiges höher liegen. Demgegenüber gehen nur acht Prozent der Betroffenen zur Polizei, und in lediglich 13 Prozent der angezeigten Fälle kommt es zu einer Verurteilung. Der häufigste Grund: mangelnde Beweislage.

Deshalb haben Brandenburgs Frauenpolitischer Rat, Opferhilfe, Gleichstellungsbeauftragte und Frauenhäuser zusammen mit dem Landesverband der Bäckereien und Konditoreien Berlin-Brandenburg die Brottütenaktion organisiert. »Gewalt kommt nicht in die Tüte« steht in großen Lettern auf der pinkfarbenen Verpackung. Darunter Anlaufstellen für medizinische Soforthilfe und vertrauliche Spurensicherung. In der Tüte selbst gibt es Flyer und Info-Broschüren mit Anlaufstellen und wichtigen Informationen für Opfer sexualisierter Gewalt. Mehr als 150 Bäckereien in Brandenburg nutzen diese Brottüten bis Ende der Woche für das Verpacken ihrer Ware und bieten so ein niedrigschwelliges Informationsangebot für Betroffene. In der ganzen Region finden Aktionen statt.

Eine dieser wichtigen Informationen ist der Satz: »Ich brauche dringend ein Gespräch mit einer Gynäkologin.« Wenn Frauen in den Ruppiner Kliniken diesen Schlüsselsatzaussprechen, weiß das Personal Bescheid, und das Verfahren der vertraulichen Spurensicherung nach Vergewaltigung wird eingeleitet. Daraufhin wird die frauenärztliche oder urologische Abteilung hinzugezogen, und in einem separaten Untersuchungsraum werden anonymisiert medizinische Hilfe sowie Beweissicherung durchgeführt. Zehn Jahre werden die Proben danach aufbewahrt, so lange haben die Betroffenen Zeit, sich psychologisch und juristisch beraten zu lassen und das Für und Wider einer Anzeige in Ruhe zu überdenken.

Die meisten Täter bei Sexualdelikten stammen aus dem direkten Umfeld des Opfers, lediglich in knapp 15 Prozent der Fälle war es jemand völlig Unbekanntes. Neben der Angst vor noch mehr Gewalt sei dies ein wichtiger Grund für die mangelnde Anzeigenbereitschaft, so Susen Schulze, beauftragte Ärztin für die vertrauliche Spurensicherung in den Ruppiner Kliniken. Das größte Problem sei dabei die Angst vor den Konsequenzen einer Anzeige. »Wenn der Täter beispielsweise mein Vorgesetzter ist, dann bin ich meinen Job los, kann mir meine Wohnung nicht mehr leisten, meine Kinder nicht versorgen und so weiter«, schildert Schulze die Bedenken ihrer Patientinnen.

Laut der Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes wird in Deutschland alle drei Minuten eine Frau vergewaltigt. Weniger als ein Prozent der Täter wird verurteilt. Der Vorteil der vertraulichen Spurensicherung ist, dass es aufgrund der rechtssicheren Dokumentation der Tatspuren im Falle einer Anzeige zu weniger Verfahrenseinstellungen kommt. Die Spurensicherung an sich ist jedoch unverbindlich und wird ohne polizeiliche Anzeige durchgeführt. »Eine Behandlung in der Notaufnahme bedeutet nicht zwangsläufig eine Anzeige«, erklärt Erik Weidmann, Chefarzt der Notfallambulanz der Ruppiner Kliniken. »Das ist ganz wichtig. Denn eine Anzeige kann nur das Opfer selbst stellen.«

Die vertrauliche Spurensicherung gibt es in Brandenburg seit Dezember 2014. Seit Juli 2016 wird sie auch von der Charité angeboten. Etwa zweimal pro Monat werde sie im Schnitt genutzt, Tendenz steigend, berichtet Saskia Etzold, Oberärztin der Gewaltschutzambulanz der Charité. Die Betroffenen, bislang ausschließlich Frauen, kämen aus den unterschiedlichsten Altersstufen, Einkommensklassen und Ländern.

»Viele Opfer sexualisierter Gewalt haben am Anfang ein sehr hohes Schamgefühl und denken, dass sie selbst Schuld haben«, so Etzold. Das Problem sei jedoch, dass nach einem Sexualdelikt nur 72 Stunden Zeit bleiben, um Spuren zu sichern. »Uns ist wichtig, den Betroffenen, die noch nicht die Kraft haben, Anzeige zu erstatten, diese Möglichkeit offenzuhalten.« Aus Kapazitätsgründen werden die Beweise in Berlin jedoch nur ein Jahr aufbewahrt. Diese Zeit würden viele Frauen nutzen, sich beraten zu lassen, deswegen arbeite man eng mit LARA, der Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt an Frauen, zusammen. »Letztlich kaufen wir den Betroffenen dadurch Zeit«, so Etzold.