nd-aktuell.de / 08.12.2017 / Kultur / Seite 14

Verdikt und Scham

Didier Eribon über das Urteil der Gesellschaft

Harald Loch

Kann man zweimal nach Reims zurückkehren? Didier Eribon kann es. Seinem auf Deutsch 2016 erschienenen Bestseller »Rückkehr nach Reims« ließ er eine Fortsetzung folgen. Der französische Soziologieprofessor aus Amien ohne Abschluss einer Grande École, einer hohen Schule, verknüpft die schonungslose Analyse eigener Existenz mit einer aufklärenden Betrachtung der Gesellschaft, deren Urteilswucht oder Verdict, wie es im französischen Originaltitel heißt, über Wohl und Wehe, über Lebenswege von Menschen entscheidet.

Gesellschaftliche Verurteilung von Individuen hinsichtlich Herkunft, Milieu, Sprache, Geschlecht und Religion erfolgt schon durch das Schulsystem und die alten Regeln der Elitenbildung - ausgesprochen über Menschen »ohne Bewährung«, wirken sie lebenslänglich. Es gibt keine Möglichkeit der Abänderung durch »Wiederaufnahme des Verfahrens«. So weit die Kernaussage seiner zweiten Rückkehr nach Reims.

Das Individuum, besonders - wie im Falle des Autors - mit einer von der Norm abweichenden sexuellen Orientierung, ist der Gesellschaft vielfältig ausgeliefert. Eribons Eltern gehörten der Arbeiterklasse an. Sie ermöglichten ihm eine ausreichende Schulbildung, die in ihm den Wunsch und die Kraft freisetzte, sich aus deren Milieu zu entfernen. Die Scham über die Herkunft wie die Scham über den »Verrat« an ihr ließen ihn nicht los. Eribon schildert aus eigenem Erleben die unterschiedlichen Verletzungen und die Verhinderungen, Lebensentscheidungen selbstbestimmt zu treffen. Dabei begibt sich der Autor auch in die Literaturgeschichte, rezipiert »Saint Genet« von Jean-Paul Sartre und »Das andere Geschlecht« von Simone des Beauvoir, aber auch Arbeiten seines Lehrers und Freundes Pierre Bourdieu. Er stellt erstaunt fest, dass die Haushälterin Françoise bei Marcel Proust »natürlich« keine eigene Geschichte hat, man nichts über deren Herkunft erfährt. Auch Zitate aus dem Werk von Annie Ernaux, Assia Djebar und anderer Autoren fügt er geschickt in seine Argumentation ein. Aber darf ein Soziologe sich fiktionaler Figuren der Belletristik bedienen, um Aufschlüsse über die Wirklichkeit zu erlangen?

Natürlich fragt sich Eribon auch, warum so viele französische Arbeiter den Front National wählen. Der Soziologe hat kein Rezept, stellt aber Linderung in Aussicht: »Sicher bin ich mir nur, dass einzig eine immer wieder erneuerte theoretische Analyse der Herrschaftsmechanismen mit ihren unzähligen Funktionen, Registern und Dimensionen in Verbindung mit dem unverwüstlichen Willen, die Welt im Sinne einer größeren sozialen Gerechtigkeit zu verändern, uns in die Lage versetzt, den vielgestaltigen Kräften der Unterdrückung zu widerstehen. Nur so werden wir eine Politik schaffen können, die das Prädikat demokratisch tatsächlich verdient.«

Didier Eribon: Gesellschaft als Urteil. Klassen, Identitäten, Wege. Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn. Suhrkamp, 265 S., br., 18 €.